»Jenseits von Recht und Strafe«

Podiumsdiskussion mit mir und Christian Siefkes am Sonntag, 11.4. 16h-18h, auf der Tagung „Der Staat ist doof und stinkt“? Perspektiven linker und anarchistischer Staatskritik, 09.-11.04.20 online über BigBlueButton https://freieassoziation.noblogs.org/staatskritik/

Eine der häufigsten und vielleicht schwierigsten Fragen in Bezug auf die Vision einer herrschaftsfreien Gesellschaft ist die des Umgang mit Übergriffen gegen andere Menschen oder auch gegen Tiere, Kulturgüter und Natur und Umwelt. Als „Restorative Justice“ und „Transformative Justice“ werden Konzepte des Umgangs mit Grenzüberschreitungen diskutiert, die sich jenseits der staatlichen Antworten wie Strafe und Gefängnis bewegen. Sie sind entstanden in antikolonialen Befreiungskämpfen, indigenen Kulturen und marginalisierten Communities und können den Weg für einen emanzipatorischen Umgang weisen. In Bezug auf die Anwendung in einer herrschaftsfreien Gesellschaft stellen sich jedoch noch einige Fragen: Was tun, wenn der/die Täter*in keine Konsequenzen tragen will? Wer entscheidet über Schuldigkeit, Recht und Unrecht und über mögliche Sanktionen und wie werden diese verhängt?

Heinz Steinert Symposium 9.-10.04. Wien (online)

Panel: Strafrecht, Gefängnis und Polizei als Herrschaftsinstrument – Abolitionismus als Herrschaftskritik,

am Freitag, 9.4. 14h-16h

Arno Pilgram: Strafrecht, Gefängnis und Polizei als Herrschaftsinstrument (Eingangsstatement)
Christa Pelikan: Spuren und Fluchtlinien des Abolitionismus in der internationalen Auseinandersetzung mit Restorative Justice
Rehzi Malzahn: Abtauchen in vernakuläre Räume. Herrschaftskritik und Alternativen in Zeiten ihrer Vereinnahmung
Sonja John: Ein weiterer guter Grund für Gefängnisabolitionismus: ‚Suizid‘ in Haft

Moderation: Monika Mokre

http://www.heinzsteinertsymposium.at/kriminalitaet-und-recht/

Restorative Justice und sexualisierte Gewalt

Für viele Laien scheint es unvorstellbar, dass man auch im Kontext geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt Restorative Justice Verfahren anwenden kann.

Abgesehen davon, dass die Entscheidung grundsätzlich bei den Betroffenen liegt und nicht bei Leuten, die sich etwas nicht vorstellen können, hier ein paar Quellen und Hinweise.

  1. WEBINAR (englisch) des European Forum for Restorative Justice am 8 März: »Making Restorative Justice possible« Anmeldungen sind offen. Mit
  • Valentina Bonini (Italy) – Exclusion criteria in the law to access restorative justice in cases of violence against women.
  • Linda Millington & Janet Clark (UK) – A facilitator’s practical experience on restorative justice with cases of sexual and domestic abuse.
  • Pascale Frank (Belgium) – An holistic restorative approach to respond to domestic violence in Family Justice Centers.
  • Marie Keenan (Ireland) – The tragedy and sorrow of familicide: can restorative justice help?
  • Alexia Stourati (Greece) – Healing circles as a safe space of sharing and empowerment for survivors of sexual violence.

2. Filme

  • The Meeting. (Englisch) »She didn’t want an apology. She wanted her life back.« Online ansehbar für 4,99€
    The film is based on a real meeting which took place between Ailbhe Griffith and the man who, nine years earlier, subjected her to a horrific sexual assault and left her seriously injured and fearing for her life. Ailbhe plays herself in the film.
  • Hollow Water (Englisch) Kostenlos online ansehbar.
    This documentary profiles the tiny Ojibway community of Hollow Water on the shores of Lake Winnipeg as they deal with an epidemic of sexual abuse in their midst. The offenders have left a legacy of denial and pain, addiction and suicide. The Canadian justice system was unsuccessful in ending the cycle of abuse, so the community of Hollow Water took matters into their own hands. Based on traditional practices, this unique model of justice reunites families and heals both victims and offenders.

3. Bücher

  • Thordis Elva, Tom Stranger: Ich will dir in die Augen sehen.
    »Eine Frau trifft den Mann, der sie vergewaltigt hat.«
    Das Buch beschreibt nicht eigentlich einen RJ-Prozess, und doch kommt darin sehr viel davon vor, was ein RJ Prozess sein kann. Thordis und Tom sind heute große Unterstützer von RJ, und Thordis hätte sich die Unterstützung, die RJ bieten kann, für ihren Prozess gewünscht, wie sie in einem Interview erklärte.
  • Handbuch für RJ im Kontext sexualisierter Gewalt (englisch) entstanden aus dem EU-Forschungsprojekt »Developing integrated responses to sexual violence – an interdisciplinary research project on the potential of Restorative Justice« der KU Leuven.
  • Judah Oudshoorn, Lorraine Stutzman Amstutz, Michelle Jackett: The Little Book of Restorative Justice for Sexual Abuse: Hope through Trauma. (englisch)
    Criminal justice approaches tend to sideline and re-traumatize victims, and punish offenders to the detriment of accountability. Alternatively, restorative justice centers on healing for victims, while holding offenders meaningfully accountable. Criminal justice responses tend to individualize the problem, and catch marginalized communities, such as ethnic minorities, within its net. Restorative justice recognizes that sexual abuse is a form of gender-based violence.

4. Working Group des European Forum (englisch) »EFRJ recognizes and respects the concerns that many people have over restorative responses to gender-based violence. There are real risks of victimization due to imbalances of power and control. Such violence is often deeply traumatic for the victim. This working group will be responsible for addressing these challenges and developing models of restorative justice, which are safe, anti- oppressive and effective.«

Next dates/nächste Veranstaltungen

18.02.20 19h »Fight Law and Order«? – Und wie wehren wir uns gegen sexistische Gewalt? // »Keine sicheren Räume?!« https://www.facebook.com/events/406574143759940

Diskussion mit Christina Clemm, Julia Rieger, Dounia von den Falken und mir zur Frage des Umgangs mit sexualisierter/sexistischer Gewalt in linken Räumen.

25.02.20. 19h30 Einführung in die Restorative Justice, Friedensbildungswerk Köln, Online. Anmeldung hier: https://friedensbildungswerk.de/html/krieg.html#RestorativeJustice

27./28.03.20 Restorative Justice: Eine andere Haltung üben. Workshop im Friedensbildungswerk Köln (sofern als Präsenzveranstaltung möglich) https://friedensbildungswerk.de/html/krieg.html#Strafen verschoben 19./20. Juni

09.04.20 Heinz Steinert Symposium, Wien/online. Mit einem Beitrag von mir „Abtauchen in vernakuläre Räume“ im Panel 3: »Strafrecht, Gefängnis und Polizei als Herrschaftsinstrument – Abolitionismus als Herrschaftskritik.« am 9.4. von 14h-16h
http://www.heinzsteinertsymposium.at

09.-11.04.20 Tagung: „Der Staat ist doof und stinkt“? Perspektiven linker und anarchistischer Staatskritik, online über BigBlueButton https://freieassoziation.noblogs.org/staatskritik/ Podiumsdiskussion »Jenseits von Recht und Strafe« mit mir und Christian Siefkes am Sonntag, 11.4. 16h-18h

12.04.20 17h Abolutionismus Webinar en/de, anlässlich des Erscheinens des „Routledge International Handbook of Penal Abolitionism“ von David Scott und Michael J. Coyle.

You can’t reform that shit

Why we need to abolish and replace the Criminal Justice System

Talk at the Chaostrawler panel of the Remote Chaos Experience #rc3 28.12.2020, 17h30

Audio of the talk is now online here: https://media.ccc.de/v/rc3-9-you_can_t_reform_that_shit

EPILOGUE: I couldn’t access the streaming chat in order to answer your questions. If you want you can contact me via my contact form (in EN, DE or FR) or check out the media list I have uploaded in the above post.

Ich freue mich, dieses Jahr auf dem Kongress des Chaos Computer Club zu sprechen! Der Vortrag ist auf Englisch. Mehr zum Kongress hier: https://rc3.world/

To many people, especially those living in a soyciety influenced by Western culture, punishment seems the normal reaction to wrongdoing and harm. We think that wrongdoers „deserve“ to be punished, and that punishment makes our society safe and keeps the peace. But does it? We also believe that „it has always been like that.“ But has it?
Today, movements like Black Lives Matter and Indigenous struggles for self determination remind us of the inherent brutality of the prison, the police and the concept of punishment itself. Movements call for the abolition of the Criminal Justice System, proposing restorative alternatives based on practices as old as humankind.
The question we need to ask is: What really makes us safe? Punishment, says French abolitionist Catherine Baker, is „useless and dangerous“. Marshall Rosenberg, founder of Nonviolent Communication, even calls it „the root of violence on our planet.“
So how can we hack this society to do better?

Reflexionen über »die Maske«

Der aller Orts heftig ausgetragene Masken-Zwist irritiert mich. Wie kommt es nur, dass trotz multipler schwerwiegender Krisen vom Klima über Polizeigewalt und das Verreckenlassen im Mittelmeer bis zur Faschisierung der Staatsapparate und Gesellschaften und dem Zerfall Europas ein Stück Stoff so sehr die Gemüter erhitzt? Gibt es nicht selbst in der Pandemie bedenklichere Entwicklungen, wie der Eingriff in die Versammlungsfreiheit oder die Schließung sämtlicher Kulturaktivitäten?

Ein paar Beobachtungen.

Linke tragen ihre Masken tendenziell gewissenhaft und ohne sich daran zu stören. Neben der Einsicht in die Vernünftigkeit der Sache verstehen Aktivist*innen vielleicht auch eher, dass sich echter Widerstand gegen die Staat und Kapital in ganz anderen Akten ausdrückt und das Tragen einer Maske bedroht sie nicht in ihrer widerständigen Identität. Vielmehr gleicht das obligatorische Maskentragen einem VermummungsGEbot und kann in manchen Situationen sogar wünschenswert sein. Zumindest aber hindert die in Hamburg liebevoll »Schnutenpulli« genannte Mund-Nase-Bedeckung niemanden daran, Geflüchtete zu unterstützen, Kohlebagger zu besetzen, leerstehende Häuser zu öffnen oder Nazis zu blockieren. Geht alles auch mit, vielleicht sogar besser.
Im Umkehrschluss fehlt vielleicht Menschen, die sich gar so sehr ausgerechnet am »Schnüsslappen« (Köln) stören, Militanz- und Widerstandserfahrung. Wenn ich meine Unterworfenheit unter das System an der Maskenpflicht festmache, wird das Tragen der Maske zur Last, geradezu unerträglich. Was für die Einen Ausdruck von Solidarität und Vernunft ist, ist für die Anderen das Symbol ihrer Unterdrückung. Diese kognitive Verbindung gilt es zu lösen. Hier ein paar Vorschläge.

The mask is not your enemy.
Erstmal ist es ja zu begrüßen, wenn Menschen gegen ihre Unterdrückung rebellieren. Manchmal täuschen sie sich aber darin, wovon sie unterdrückt sind. Ich bin hundertproztentig bei den Leuten, wenn sie der Regierung misstrauen und per Dekret verordnete Maßnahmen nicht einfach hinnehmen. Kritik und Ungehorsam sind gut und nicht schlecht. Nun gilt es herauszuarbeiten, wo die wirklichen Probleme, die eigentliche unterdrückerischen Maßnahmen, gegen die Widerstand geleistet werden muss, liegen. Die immer noch dem kapitalistisch-neoliberalen Zeitgeist unterworfene Politik bietet dafür eigentlich eine sehr breite Angriffsfläche mit vielen Steilvorlagen, so dass die Maske wie ein lächerliches Detail erscheint. Wurde etwa die desaströse Gesundheitspolitik der letzten Jahrzehnte aufgegeben und Krankenhäuser wieder erweitert bzw geschlossene wieder eröffnet? Wurde massiv Personal eingestellt und dieses endlich angemessen entlohnt? Wurden die Privatisierungen rückgängig gemacht und die Medizin der Phramalobby aus den Händen gerissen? Wurden alternative Heilmethoden anerkannt und gestärkt (in China musste der Staat umfassende Erfolge der Traditionellen Chinesischen Medizin bei der Behandlung von Covid-19 Patient*innen anerkennen. Davon erfährt man hier nichts, wenn man nicht Fachmedien konsultiert)? Wurde einfach ein bedinungsloses Grundeinkommen eingeführt, um allen Menschen eine sichere Existenz in der Krise zu ermöglichen und somit Ängste und damit verbundene psychische Schäden zu minimieren? Die Antwort auf all diese und so viele weitere Fragen ist natürlich »nein«. Hier ist Widerstand nötig. Welche Idee von Gesundheit wird der Maßnahmenpolitik zu Grunde gelegt? Welches Verständnis von Demokratie und von Abwägung der Rechte und Eingriffe? Wurde die monströse Bürokratie, die von den Bedarfen vor Ort oft nichts mehr weiß, sondern von oben nach unten dekretiert, angetastet? Der Punkt muss sein: lasst uns gemeinsam Maske tragend den Kapitalismus stürzen.

Uminterpretation

Viele weiße Zivilisationsbewohner*innen erleben also das Tragen einer Gesichtsbekleidung als unerhöhrten Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Kaum ein Pandemiethema ist so allgegenwärtig wie dieses. Möglicherweise ist dieses auch eine Art Einstiegsdroge in die sogenannte Coronaleugner*innen-Szene. Der Mangel an Verständnis und auch die Agression, die Menschen mit Maskenproblem erleben, treiben sie in die Arme einer rechtsoffenen Szene, weil sie dort Zustimmung bekommen. Mein Vorschlag wäre, erstens das widerständige Gefühl hinter der Maskenverweigerung anzuerkennen, um dann andere Formen der Widerständigkeit und eine andere Interpretation der Maske vorzuschlagen.

  1. Endlich dauervermummt! Gibt es eine bessere Gelegenheit, völlig unverdächtig der Videoüberwachung, teils mit Gesichtserkennung, ein Schnippchen zu schlagen? Es ist doch wunderbar, dass wir endlich wieder unerkannt durch die Städte und Kaufhäuser gehen können! Wem die Maske nicht reicht, der kann sie im Sommer mit Hut und im Winter mit Mütze kombinieren. Und als Sahnehäubchen lässt sich noch eine Sonnenbrille dazu tragen.
  2. Dank Maske eine verschworene Community: gemeinsam nehmen wir solidarisch diese Einschränkung hin, um diejenigen unter uns (und uns selbst) zu schützen, die eine Erkrankung möglicherweise nicht überleben würden. Wir zwinkern uns verschörerisch zu. Es tut gut, gemeinsam für Schwächere einzustehen, und weil das so ist, verlangen wir im Übrigen die Rettung der Geflüchteten im Mittelmeer und die Beherbergung der Obdachlosen sowie die sofortige Freilassung aller Gefangenen, die keine Gefahr für Leib und Leben anderer sind. Yeah!
  3. Drag for everybody, carnival every day. Lernt von den Kölner*innen: es gibt immer einen Grund, Karneval zu feiern – und dazu gehört, sich zu verkleiden. Und zu einer ordentlichen Verkleidung gehört auch eine Maske. Nutzen wir die Gelegenheit des Verkleidungszwangs für Identitäsverwirrungsspiele und karnevaleske Eskapaden. Die ganze Sache ist doch auch so schon viel zu Ernst.
  4. Wer nicht sehen kann soll hören: die Verdeckung des Antlitzes als Aufforderung begreifen, das Zuhören zu kultivieren. Für all jene, die es mit Levinas halten, und das Angesichts des Antlitzes des Gegenüber als eine notwendige Voraussetzung für Gewaltverzicht unter Menschen ansehen, mag der Verweis helfen, dass die so stark auf das Visuelle fixierte Wahrnehmungskultur der Gewalt durch Kategorisierung Vorschub leistet. Othering hängt viel daran, dass ich Kraft des Anblicks Deiner vermeine zu wissen, wer Du bist. Das Zuhören dagegen ist eine Wahrnehmungspraxis, die uns zunehmend verloren geht. Nicht umsonst ist Gehört-werden ein zentrales Anliegen von Menschen in Konflikten, insbesondere Betroffenen von Gewalt. Und »mit dem Herzen zu hören« die Auffoderung an die Teilnehmer*innen in »Healing Circles«. Friedemann Schulz von Thun hat in der Kommunikationstheorie die vier Seiten einer Nachricht herausgearbeitet (was wir den anderen sagen hören und wie wir es interpretieren) und bei Marshall Rosenberg gibt es das Vier-Ohren-Modell für die vier Arten, wie ich das, was jemand sagt, aufnehme. Richtiges Hören ist also eine wichtige, zu lernende und zu übende und allzu vernachlässigte Praxis. Unsere derzeitige allgemeine Verschleierung könnten wir als Aufforderung zum Zuhören betrachten äh nein verstehen. Das französische gibt einen Hinweis auf die Wichtigkeit des Hörens für das menschliche Miteinander: das Wort „Entendre“ bedeutet sowohl „hören“ als auch „sich verstehen“. Wer gut miteinander auskommt, der hört sich gut: „Ils s’entendent bien“.

Abolitionist reading list

Wer des Englischen mächtig ist, kann in diesem wirklich abgefahren umfangreichen Fundus graben:

https://abolitionistfutures.com/full-reading-list

Großartig ist auch diese Sammlung an Essays.

https://level.medium.com/abolition-for-the-people-397ef29e3ca5

Ich muss dringend mit Verlagen über Übersetzungen und eine abolitionistische Reihe verhandeln, es gibt viel zu viel großartige englischsprachige Texte, noch dazu aus den Schwarzen, Indigenen, Trans und Queer Bewegungen.

und hier wie versprochen auch meine Medienliste:

Abolitionismus in aller Munde

Schön! In letzter Zeit häufen sich Medienberichte zu Fragen der Abschaffung von Polizei und Gefängnissen. Ein Lichtblick in diesen mehrfach krisengebeutelten Zeiten. Ich bekomme immer wieder Anfragen für Interviews (mach ich gerne) als auch Hinweise zu Artikeln und Filmen zugeschickt. Wenn Euch was unterkommt, lasst es mich gerne wissen!

Hier eine kleine Zusammenstellung der letzten Zeit:

Tagesschau Podcast: »Mal angenommen…« es gäbe keine Gefängnisse mehr
https://www.tagesschau.de/multimedia/podcasts/mal-angenommen-101.html

TAZ: »Lieber solidarisch leben« Zur Forderung nach der Abschaffung der Polizei
https://taz.de/Debatte-um-Abschaffung-der-Polizei/!5701855/

Restorative Justice: Sollte sie stärker gefördert werden? Arte Beitrag
https://www.arte.tv/de/videos/094561-000-A/restorative-justice-sollte-sie-staerker-gefoerdert-werden-vox-pop/

Mediation – Chance für Opfer und Täter
https://programm.ard.de/TV/arte/mediation-/eid_287243226677797

Schaut auch hier vorbei, es gibt einen Blog: Deutsche Gesellschaft zur humanen Fortentwicklung des Strafrechts

Die Geschichte von Harry

Eine Parabel über die Vielschichtigkeit von Menschen

Gestern habe ich Harry wieder getroffen, wir hatten uns sicher drei Jahre nicht gesehen. Wir sind uns am See über den Weg gelaufen, er wie immer braun gebrannt, gut gelaunt und zu einem Schwätzchen aufgelegt. Sie würden jetzt Müll sammeln, am See, und hätten einen Verein gegründet, der sich um den See kümmern will. Ich war gerührt.
Den See? Es geht um einen alten Baggersee, in der Nähe von Köln. Seit Generationen kommen die Menschen hierher, zum Baden, Tauchen, Schwimmen, Hunde ausführen, Grillen, Feiern, Chillen und Angeln. Der See ist in Privatbesitz, und jedes Jahr wird ein kleines Ritual begangen. Die Eigentümer*innengemeinschaft stellt einen Zaun auf und Schilder, dass der Zutritt verboten ist. Keinen halben Tag später ist der Zaun wieder niedergetrampelt und die Schilder abmontiert. Zeitweise haben sie es mit Securities versucht, aber bei hunderten, zum Teil nackter Badegäste wurde das nur skurril.
Der See liegt im Einzugsgebiet zweier Stadtteile Kölns, einem eher wohlhabenden und einem eher armen Viertel. Ich habe mal ausgerechnet, dass im näheren Umkreis ca 20 000 Menschen wohnen. Und es mangelt in Köln an Naherholungsgebieten, besonders solchen mit Gewässer und kostenlosem Zugang. Vor Jahren hatte ich versucht, eine Kampagne ins Leben zu rufen, die in Anlehnung an altes Gewohnheitsrecht und den nordischen Brauch, dass Gewässer allen zugänglich sein müssen, für eine freie Nutzung des Sees kämpft, denn mittlerweile planten die Eigentümer*innen eine kommerzielle Nutzung inklusive Wasserskianlage. Der Kampf um den freien Zugang zur Natur ist Teil der alten Arbeiterbewegung, Vereine wie die »Naturfreunde« sind daraus hervorgegangen – ihr Gruß »Berg frei!« erinnert an diese Forderung.
Leider gelang es mir damals nicht, genügend Nutzer*innen des Sees für ein Engagement zu gewinnen. Bei einem angesetzten Müllsammeltermin als erster gemeinsamer Kennenlernaktion stand ich alleine beim verabredeten Treffpunkt. Ich gab es auf und zog später auch weg.

Harry ist gelernter Schlosser und glücklicher Arbeitsloser. Seit seiner frühen Jugend ist er arbeiten gegangen, und seit er 40 ist, hat er die Schnauze voll. Er findet nicht, dass er der Gesellschaft noch etwas Lohnarbeitsförmiges schuldig ist und verbringt seine freie Zeit im Sommer jeden Tag am See. Früher kam er auch regelmäßig ins Naturfreundehaus, wo wir eine Art Stadtteilzentrum eingerichtet hatten. Mittwochs war unser »Sozialtag«: Es gab eine Lebensmittelausgabe, eine Arbeitslosenberatung und Kaffee für alle. Meistens kochte jemand oder es gab belegte Brötchen gegen Spende, und im Sommer wurde auf der Terrasse und im Garten abgehangen. Harry war ein Mittwochsgast. Er half, wenn es wo mit anzupacken galt, aber ansonsten genoss er es einfach, wie manche andere auch, dass »etwas los« war und man mit Leuten schwatzen konnte. Bei der Kampagne für den See hat er damals nicht mitgemacht, auch wenn er es eine gute Idee fand.

Wie wir so da standen und er mir von der neuen Initiative erzählte, ging mir das Herz auf. Sollte etwa doch etwas aus meinen damaligen Bemühungen gekeimt sein? Sogar den Spruch »Rather See frei!« hatten sie als Slogan übernommen. Ist da etwa eine Saat doch noch aufgegangen? Es war schön zu sehen, dass da nun sogenannte »normale Leute«, keine Berufsaktivist*innen, Verantwortung übernommen hatten und sich sichtbar aktiv kümmerten. Sie haben selbstgemachte Schilder aufgestellt, die zu einem respektvollen Umgang mahnen, verfolgten die Bauplanungsverfahren für die Wasserskianlage, versuchten, zu intervenieren, und wehrten sich zusammen mit den vielen anonymen Nutzer*innen gegen immer wieder aufgestellte Zäune. Ich bin gespannt, was passieren wird, wenn mit Beginn der Bauarbeiten die »heiße Phase« beginnt.

Während ich mich so darüber freute, dass der Kampf für den Erhalt der freien Nutzung des Sees weitergeht und von Leuten übernommen wurde, von denen ich es zunächst nicht vermutet hätte, erzählt Harry weiter. Die Mächtigen würden sich ja immer mehr herausnehmen und man müsse Widerstand leisten, ob ich gesehen hätte, was da in Berlin abgegangen sei? Berlin? Achja, oh weh, die Coronaleugner-Demo. Ob ich denn »daran« glauben würde? Ich sei krank gewesen, entgegne ich, nun etwas entsetzt über die Wendung des Gesprächs, und würde es keinem wünschen. Er glaube das alles nicht, so wie das laufe, sei das doch durchsichtig, dass es dazu diene, die Gesellschaft noch stärker zu kontrollieren. Uff!
Ich versuche, Sachen auseinander zu dividieren: es sei etwas dran, dass man der Regierung nicht vertrauen dürfe, dass sie die Gelegenheit für eine Ausweitung von Kontrolle nutzen würden – was ja aber nicht heißen würde, dass es kein gefährliches Virus gäbe, sage ich. Wir werden uns nicht einig. Weißt Du, Harry, entgegne ich ein letztes Mal: ob es »Corona« nun gibt oder nicht: durch den Klimawandel, die Zerstörung von Lebensräumen und das Auftauen des Permafrost werden wir noch mit vielen, vermutlich viel gefährlicheren Viren zu tun haben. Es ist eine Realität, dass es sie gibt und dass wir nicht vorbereitet sind. Ja, sagt er, und wer ist Schuld an diesem Klimawandel? Und analysiert mir haarklein am Beispiel von Autoersatzteilen, wie alles auf Ressourcenverschwendung, Wegwerfen und sinnlosen Konsum ausgerichet ist, nur um immer mehr Profite zu machen. Ja, da sind wir uns wieder einig.

Nein, ich werde Harry nicht einfach als Coronaleugner abstempeln. Harry ist kein Intelektueller, aber er hat in vielen Dingen Recht und tut das Richtige. Bei Corona täuscht er sich, aber darauf kann man ihn nicht reduzieren. Diese Anerkennung der Vielschichtigkeit von Menschen ist Basis jedes strafabolitionistischen Denkens und Handelns. Es ist ein tägliches Üben und Sich-daran-Erinnern, dass niemand auf eine Handlung oder einen Teil seiner Persönlichkeit reduziert werden kann, und dass das eine Grundvoraussetzung dafür ist, um Veränderung möglich zu machen und Dynamik in die Verhältnisse zu bekommen.
Dass Linken nichts besseres einfällt, als mit dem Finger auf die Leute zu zeigen, anstatt sich in Kämpfe einzumischen und sie emanzipatorisch zu wenden (wie es die Linke in Frankreich bei den Gilets Jaunes zB erfolgreich getan hat), ist ein Grund ihrer Schwäche. Es ist ja so viel einfacher, die anderen für bekloppt zu erklären und sich in seiner eigenen Rechtschaffenheitsgewissheit zu sulen. Wenn schon die Idee, hinzugehen und die Nazis rauszuhauen und mit den Leuten über die Ambivalenzen und Differenzen zu streiten, als illusorisch und sinnlos empfunden wird, sind wir hier noch weit von einem Aufstand entfernt. Es ist aus einer französischen Warte merkwürdig zu sehen, dass deutsche Linke irgendwie auf einen von vornherein korrekten Protest hoffen, in den sie sich dann einmischen können, anstatt zu begreifen, dass es immer und notwendigerweise verschwurbelt sein wird und dass es auf UNS ankommt, das zu ändern. Da sieht man, wie weit sich die linke Blase von jedem Kontakt mit Nicht-eingeweihten entfernt hat. Viele, viele Feigezingerlängen weit.

Buchvorstellung in BONN 28. Juli 2020

Dienstag, 28. Juli, 19h30: Buchvorstellung Strafe, Gefängnis, Alternativen
BUCHLADEN LE SABOT, BONN (OPEN AIR)

Die Veranstaltung findet im Hof links neben dem Buchladen mit den entsprechenden Coronaregeln statt. Bei Regen wird sie auf den 30. Juli verschoben. Regnet es dann auch, fällt sie ins Wasser.


Dass wir strafen, erscheint uns eine Selbst-verständlichkeit. Manchmal erfüllt sie uns mit Unbehagen, aber wirklich in Frage stellen wir sie nicht. „Strafe ist die Wurzel der Gewalt auf unserem Planeten“, schreibt der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, Marshall Rosen-berg. Strafe ist ein Kern von Herrschaft: sie bedarf Institutionen, die sie ausführen und bedeutet, dass sich ein Individuum über das andere erhebt. Während einzelne Institutionen der Strafe (wie z.B. das Gefängnis oder auch die Züchtigung in der Schule) konjunkturell kritisiert werden, ist die Kritik der Strafe als solches eine Seltenheit. Um einer friedlicheren und freieren Gesellschaft näher zu kommen, ist daher die Infragestellung von Bestrafung notwendig.
Wie aber kann es anders gehen? Welche Alternativen gibt es? In antikolonialen Befreiungskämpfen, indigenen Kulturen und marginalisierten Communities finden sich eine Menge anderer Verfahren der »Unrechtsbewältigung« oder »Gerechtigkeitsfindung«.
Als »Restorative Justice« und »Transformative Justice« werden solche Alternativen heute auch in weißen Mehrheitsgesellschaften diskutiert.
Dass sie jedoch nach wie vor nur marginal angewandt werden, liegt auch daran, dass sie außerhalb der Fachkreise unbekannt sind und es keine gesellschaftliche Bewegung gibt, die sie praktiziert und einfordert. Das gilt es zu ändern.