Die Geschichte von Harry

Eine Parabel über die Vielschichtigkeit von Menschen

Gestern habe ich Harry wieder getroffen, wir hatten uns sicher drei Jahre nicht gesehen. Wir sind uns am See über den Weg gelaufen, er wie immer braun gebrannt, gut gelaunt und zu einem Schwätzchen aufgelegt. Sie würden jetzt Müll sammeln, am See, und hätten einen Verein gegründet, der sich um den See kümmern will. Ich war gerührt.
Den See? Es geht um einen alten Baggersee, in der Nähe von Köln. Seit Generationen kommen die Menschen hierher, zum Baden, Tauchen, Schwimmen, Hunde ausführen, Grillen, Feiern, Chillen und Angeln. Der See ist in Privatbesitz, und jedes Jahr wird ein kleines Ritual begangen. Die Eigentümer*innengemeinschaft stellt einen Zaun auf und Schilder, dass der Zutritt verboten ist. Keinen halben Tag später ist der Zaun wieder niedergetrampelt und die Schilder abmontiert. Zeitweise haben sie es mit Securities versucht, aber bei hunderten, zum Teil nackter Badegäste wurde das nur skurril.
Der See liegt im Einzugsgebiet zweier Stadtteile Kölns, einem eher wohlhabenden und einem eher armen Viertel. Ich habe mal ausgerechnet, dass im näheren Umkreis ca 20 000 Menschen wohnen. Und es mangelt in Köln an Naherholungsgebieten, besonders solchen mit Gewässer und kostenlosem Zugang. Vor Jahren hatte ich versucht, eine Kampagne ins Leben zu rufen, die in Anlehnung an altes Gewohnheitsrecht und den nordischen Brauch, dass Gewässer allen zugänglich sein müssen, für eine freie Nutzung des Sees kämpft, denn mittlerweile planten die Eigentümer*innen eine kommerzielle Nutzung inklusive Wasserskianlage. Der Kampf um den freien Zugang zur Natur ist Teil der alten Arbeiterbewegung, Vereine wie die »Naturfreunde« sind daraus hervorgegangen – ihr Gruß »Berg frei!« erinnert an diese Forderung.
Leider gelang es mir damals nicht, genügend Nutzer*innen des Sees für ein Engagement zu gewinnen. Bei einem angesetzten Müllsammeltermin als erster gemeinsamer Kennenlernaktion stand ich alleine beim verabredeten Treffpunkt. Ich gab es auf und zog später auch weg.

Harry ist gelernter Schlosser und glücklicher Arbeitsloser. Seit seiner frühen Jugend ist er arbeiten gegangen, und seit er 40 ist, hat er die Schnauze voll. Er findet nicht, dass er der Gesellschaft noch etwas Lohnarbeitsförmiges schuldig ist und verbringt seine freie Zeit im Sommer jeden Tag am See. Früher kam er auch regelmäßig ins Naturfreundehaus, wo wir eine Art Stadtteilzentrum eingerichtet hatten. Mittwochs war unser »Sozialtag«: Es gab eine Lebensmittelausgabe, eine Arbeitslosenberatung und Kaffee für alle. Meistens kochte jemand oder es gab belegte Brötchen gegen Spende, und im Sommer wurde auf der Terrasse und im Garten abgehangen. Harry war ein Mittwochsgast. Er half, wenn es wo mit anzupacken galt, aber ansonsten genoss er es einfach, wie manche andere auch, dass »etwas los« war und man mit Leuten schwatzen konnte. Bei der Kampagne für den See hat er damals nicht mitgemacht, auch wenn er es eine gute Idee fand.

Wie wir so da standen und er mir von der neuen Initiative erzählte, ging mir das Herz auf. Sollte etwa doch etwas aus meinen damaligen Bemühungen gekeimt sein? Sogar den Spruch »Rather See frei!« hatten sie als Slogan übernommen. Ist da etwa eine Saat doch noch aufgegangen? Es war schön zu sehen, dass da nun sogenannte »normale Leute«, keine Berufsaktivist*innen, Verantwortung übernommen hatten und sich sichtbar aktiv kümmerten. Sie haben selbstgemachte Schilder aufgestellt, die zu einem respektvollen Umgang mahnen, verfolgten die Bauplanungsverfahren für die Wasserskianlage, versuchten, zu intervenieren, und wehrten sich zusammen mit den vielen anonymen Nutzer*innen gegen immer wieder aufgestellte Zäune. Ich bin gespannt, was passieren wird, wenn mit Beginn der Bauarbeiten die »heiße Phase« beginnt.

Während ich mich so darüber freute, dass der Kampf für den Erhalt der freien Nutzung des Sees weitergeht und von Leuten übernommen wurde, von denen ich es zunächst nicht vermutet hätte, erzählt Harry weiter. Die Mächtigen würden sich ja immer mehr herausnehmen und man müsse Widerstand leisten, ob ich gesehen hätte, was da in Berlin abgegangen sei? Berlin? Achja, oh weh, die Coronaleugner-Demo. Ob ich denn »daran« glauben würde? Ich sei krank gewesen, entgegne ich, nun etwas entsetzt über die Wendung des Gesprächs, und würde es keinem wünschen. Er glaube das alles nicht, so wie das laufe, sei das doch durchsichtig, dass es dazu diene, die Gesellschaft noch stärker zu kontrollieren. Uff!
Ich versuche, Sachen auseinander zu dividieren: es sei etwas dran, dass man der Regierung nicht vertrauen dürfe, dass sie die Gelegenheit für eine Ausweitung von Kontrolle nutzen würden – was ja aber nicht heißen würde, dass es kein gefährliches Virus gäbe, sage ich. Wir werden uns nicht einig. Weißt Du, Harry, entgegne ich ein letztes Mal: ob es »Corona« nun gibt oder nicht: durch den Klimawandel, die Zerstörung von Lebensräumen und das Auftauen des Permafrost werden wir noch mit vielen, vermutlich viel gefährlicheren Viren zu tun haben. Es ist eine Realität, dass es sie gibt und dass wir nicht vorbereitet sind. Ja, sagt er, und wer ist Schuld an diesem Klimawandel? Und analysiert mir haarklein am Beispiel von Autoersatzteilen, wie alles auf Ressourcenverschwendung, Wegwerfen und sinnlosen Konsum ausgerichet ist, nur um immer mehr Profite zu machen. Ja, da sind wir uns wieder einig.

Nein, ich werde Harry nicht einfach als Coronaleugner abstempeln. Harry ist kein Intelektueller, aber er hat in vielen Dingen Recht und tut das Richtige. Bei Corona täuscht er sich, aber darauf kann man ihn nicht reduzieren. Diese Anerkennung der Vielschichtigkeit von Menschen ist Basis jedes strafabolitionistischen Denkens und Handelns. Es ist ein tägliches Üben und Sich-daran-Erinnern, dass niemand auf eine Handlung oder einen Teil seiner Persönlichkeit reduziert werden kann, und dass das eine Grundvoraussetzung dafür ist, um Veränderung möglich zu machen und Dynamik in die Verhältnisse zu bekommen.
Dass Linken nichts besseres einfällt, als mit dem Finger auf die Leute zu zeigen, anstatt sich in Kämpfe einzumischen und sie emanzipatorisch zu wenden (wie es die Linke in Frankreich bei den Gilets Jaunes zB erfolgreich getan hat), ist ein Grund ihrer Schwäche. Es ist ja so viel einfacher, die anderen für bekloppt zu erklären und sich in seiner eigenen Rechtschaffenheitsgewissheit zu sulen. Wenn schon die Idee, hinzugehen und die Nazis rauszuhauen und mit den Leuten über die Ambivalenzen und Differenzen zu streiten, als illusorisch und sinnlos empfunden wird, sind wir hier noch weit von einem Aufstand entfernt. Es ist aus einer französischen Warte merkwürdig zu sehen, dass deutsche Linke irgendwie auf einen von vornherein korrekten Protest hoffen, in den sie sich dann einmischen können, anstatt zu begreifen, dass es immer und notwendigerweise verschwurbelt sein wird und dass es auf UNS ankommt, das zu ändern. Da sieht man, wie weit sich die linke Blase von jedem Kontakt mit Nicht-eingeweihten entfernt hat. Viele, viele Feigezingerlängen weit.

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