Nach 20 Lesungen – ein Zwischenfazit

Bald ist es ein Jahr her, dass das Buch erschienen ist, und ich habe seit gestern die zwanzigste Lesung hinter mir. Und, ich muss sagen, mit gemischten Gefühlen. Einerseits freue ich mich nach wie vor über das rege Interesse an meinem Buch und bin dankbar für die Mühen, die die Veranstalter_innen auf sich nehmen, um mich einzuladen. Gleichzeitig beobachte ich jedoch ein merkwürdiges Phänomen, das mich ratlos zurücklässt.

Die Lesungen sind immer gut besucht, oft platzt der Raum aus allen Nähten, das Buch verkauft sich gut, Zeitungen und Radiosender interessieren sich dafür und das Thema bewegt die Leute – sogar solche, die selber nie linke Aktivist_innen waren oder nicht einmal etwas mit der Linken zu tun haben. Es hat also einen Nerv getroffen und spricht ein wichtiges Thema an – das kann ich, denke ich, konstatieren.

Doch dann sitze ich oft vor einem Publikum, das mich mit großen Augen ansieht und: nichts sagt. Nichts fragt. Schweigt.

Nun könnte man sagen, wenn es um die siebzehnte Ableitung der Werttheorie des Geldes bei Marx in der Interpretation von Sohn-Rethel geht: ok, ist ein Expert_innenthema, schwierig, da können viele auch nichts dazu sagen. Es geht aber um das Leben der Leute. Um ihre ureigensten Fragen: warum bleibe ich dabei? Wie geht es für mich weiter? Was frustriert mich, was motiviert micht? Welche Bedürfnisse habe ich, wie hat sich mein Verhältnis zum Widerstand über die Jahre verändert? Wie haben es die anderen gemacht? Was habe ich für ein Verhältnis zu Älteren/Jüngeren in meinem politischen Umfeld? Etc. Fragestellungen, zu denen wirklich jede_r einzelne etwas beizutragen hat. Oft jedoch: Stille. Dann: zögerliche Fragen, Allgemeinplätze, oberflächliches Herantasten. Manchmal wahnsinnig zäh. Einmal haben wir sogar eine Pause gemacht, weil einfach wirklich niemand etwas sagen wollte. Auch nach der Pause nicht. Als schließlich zwei ältere Männer, offensichtlich Kader und gewohnt zu sprechen, in die Bresche sprangen und sich immerhin zwischen uns ein, wenn auch wenig tiefgehender, Trialog entsponn, kam die Klage, es würden ja immer die gleichen reden. Dominantes Redeverhalten. Da ist mir der Kragen geplatzt: die Redeliste war immer leer, dass die einen redeten, war dem Schweigen der anderen geschuldet. Es hätte ja sonst einfach niemand gesprochen.

Nun mag man einwenden: der Lesetext ist sehr dicht, das kann auch überrumpeln, vielleicht sind es einfach zu viele Gedanken, die im Kopf rumschwirren, so dass erst einmal Ordnung einkehren muss, bevor man was sagen kann. Ja, das mag sein. Dann liegt es an den Einladenden, die Diskussion in Gang zu bringen. Was aber ist von Veranstalter_innen zu halten, die manches Mal noch nicht einmal selber das Buch gelesen haben, die selbst keine Fragen und Anmerkungen haben, weder vorbereitet noch spontan?  Manchmal komme ich mir vor, wie eine gebuchte Entertainerin. Konsumieren einer Lesung und fertig. Wieder einen Abend gefüllt, einen Programmpunkt abgehakt. Bin ich ungerecht, wenn ich das unpolitisch nenne?
Dort, wo sich die Veranstalter_innen Gedanken machen, wo sie selber eine Frage haben, wo sie sich mit dem auseinandersetzen, was sie an diesem Thema bewegt, kurz: wo sie sich politisch und persönlich zum Buch und zum Thema des Buches ins Verhältnis setzen und darüber sprechen, dort ist es (meistens) anders. Die ein oder andere lebendige Diskussion habe ich durchaus erlebt.

Es geht mir nicht darum, meine persönliche Befindlichkeit breit zu treten, die Enttäuschung über zähe Diskussionen und manglenden Austausch. Ich halte dieses Phänomen für einen Ausdruck politischer Substanz- und Orientierungslosigkeit, der die Linke ergriffen hat. Möglicherweise wissen viele von sich selber gar nicht, warum sie eigentlich »dabei« sind, was sie wollen. Oder es gibt eine Angst, manchen Fragen auf den Grund zu gehen. Oder vor Anderen über die eigenen Motive zu sprechen. Sich auf etwas einzulassen, sich verunsichern zu lassen von einer sehr persönlichen Frage. Oder ist es Angst durch die um sich greifende Praxis der Redeverbote und Sprachpolizei, Angst etwas »Falsches« zu sagen?

Ich vermute, es sind oft die von einigen Interviewten beklagten Punkte: habe ich noch eine Frage an den Anderen? Habe ich noch eine Frage an mein Leben? Ist in mir Neugier auf etwas? Echtes Interesse, nicht bloß Konsum? Will ich noch was? Lass ich mich auch nochmal verunsichern, oder ist schon »alles klar«? Habe ich eine Haltung? Wie gehe ich mit Widersprüche um, wie lebe ich Konflikte?
Ich wäre ja mitunter einfach nur froh, wenn mir mal jemand widersprechen würde, weil das bedeutet, dass etwas dahintersteckt. Widerspruch und Kritik geht ja nur, wenn ich einen Standort habe, von dem aus ich eine Sache betrachte. Also einen eigenen Blickwinkel (entwickelt) habe. Dort, wo Widerspruch kommt, wird die Diskussion meist sehr lebendig. Und ich kann nur allen Mut machen: bei mir gibt es keine Sprechverbote und keine falschen Aussagen. Wenn es konflikthaft wird, dann schauen wir uns das eben gemeinsam genauer an. Mich interessiert, warum die Leute da sind, und was sie von der Veranstaltung wollen.

Ich bin wirklich irritiert. Als ich selbst im Rahmen meines Engagements im Naturfreundehaus Kalk zahlreiche Vorträge und Lesungen organisiert habe, wussten wir immer, warum wir jemanden einladen, was unser Interesse, unsere Frage, unsere Haltung ist. Wir wollten darüber eine Auseinandersetzung, darauf haben wir uns gefreut!
Das eine ist dann die Veranstaltung. Manchmal ist das Publikum gut dabei, manchmal nicht, aber man hat ja glücklicherweise das beste am Schluss: mit den Referent_innen, der Gruppe und ein paar Buddies nach der Veranstaltung noch in die Kneipe. Die besten Diskussionen mit den interessantesten Leuten, manchmal bis spät in die Nacht. Niemals wollte ich das missen. Schade war es immer, wenn die Referent_innen keine Zeit dafür hatten. Manches Mal sind andere extra nachgekommen. Oder ich bin nach der Arbeit noch hin, wenn andere was organisiert hatten und ich den offiziellen Teil nicht besuchen konnte.
Ich dachte, das machen alle so. Ich erlebe es aber sehr selten. Das soll keine Klage sein, auch wenn es natürlich irgendwie schade ist. Es geht mir auch nicht darum, dass sich nun Leute verpflichtet fühlen, mit mir trinken zu gehen. Das wäre ganz schräg. Interesse kann nur authentisch sein oder es ist nicht. Es geht mir nicht um die Form, sondern um die Frage, was sich darin ausdrückt. Ich will das phänomenologisch festhalten und fragen: was ist da los? Wirke ich so unkommunikativ oder fehlt es an Substanz im Verhältnis zur Fragestellung? Mangelt es an Neugier oder überfordere ich die Leute?

Ganz ehrlich, ich weiß nicht, was da los ist. Vielleicht habt ihr ja eine Idee?

4 Antworten zu “Nach 20 Lesungen – ein Zwischenfazit

  1. Ich hab´ eine Idee! Aber erstmal eine Frage an Dich: ist das denn generationenbedingt, dieses Verhalten, das Du da beschreibst? Also sind es eher die Jüngeren, die so teilnahmslos und indifferent sind?

    Das frage ich deshalb: Ich selbst habe nicht mehr unbedingt intensiven Kontakt mit der linken Szene, beobachte aber ein ganz ähnliches Phänomen im Universitätsbetrieb. Ich könnte das sowohl für die Studierenden als auch für die MitarbeiterInnen ausführen, mache es aber mal nur für letztere. Meine eigene akademische Tätigkeit ist im Wesentlichen aus der linken Szene heraus entstanden, also in der Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus, Kapitalismus, kritischer Theorie – anfangs alles noch sehr grob gedacht und holzschnittartig, teilweise ziemlich platt. Was ich aber von der „Linken“ mit in die Uni genommen habe, ist einmal die Erkenntnis (vielleicht ist es auch gar nicht so sehr eine explizite Erkenntnis, sondern schon fast sowas wie ein Habitus), dass mich die Welt als Ganze etwas angeht und nur als Ganze zu begreifen ist, das ganz Große immer auch im ganz Kleinen zu finden ist. Außerdem vielleicht so Gedanken wie: es ist alles politisch, und alles normativ, von der Trennung der Disziplinen über die eigene Positionierung im und zum Wissenschaftsbetrieb bis hin zu (vermeintlichen) Detailfragen wie die nach Methoden und Methodologie. Die Universität begreife ich nicht als Job, sondern als allgemeinen Lebensvollzug, der sich überhaupt nicht von mir trennen lässt: die Welt und ihr Scheitern zu verstehen zu versuchen, junge Menschen akademisch zu sozialisieren, all das macht man nicht von 8 bis 16 Uhr, sondern als Lebensaufgabe und bis man umkippt. Entsprechend gehören Streit, Diskussion, die Verlängerung des „Akademischen“ ins „Private“ (und umgekehrt) zu meinem Leben dazu und sind sicherlich zu einem guten Teil auf meine Sozialisation in linken Zusammenhängen zurückzuführen. Das – dieser Anspruch und diese Praxis – funktioniert aber nicht, geht auf eine ganz eigentümliche Art ins Leere.

    Je mehr ich in den letzten Jahren (bzw. innerhalb des letzten Jahrzehnts) von der Linken weg hin zum „normalen“ Betrieb gekommen bin, desto mehr treffe ich auf einen Typus Menschen, der sich nichts und niemanden noch etwas angehen lässt, von nichts mehr betroffen ist, sich über nichts streiten kann, weitgehend gleichgültig wirkt. Ein Beispiel: eine Kollegin hat empirische Bildungsforschung studiert, und ich versuche eine Diskussion mit ihr über den Bildungsbegriff, der meiner Ansicht nach nicht nur philosophisch anspruchsvoll, sondern hochgradig politisch, gesellschaftstheoretisch und normativ ist. Im Gespräch stellt sich sehr schnell raus, dass die Kollegin zwar Bildungsforschung studiert hat, aber mit dem Bildungsbegriff gar nichts anfangen kann. Dazu kam im Studium nichts vor, war sehr statistisch-empirisch das alles, sie hat aber auch nicht eigenständig nachgelesen, einen Diskussionskreis dazu ins Leben gerufen oder die Dozenten kritisiert. Auf meine Nachfrage hin, was denn dann empirische Bildungsforscher eigentlich erforschen, wenn sie keinen Begriff von Bildung haben, konnte sie nichts erwidern. Sie fühlte sich aber auch nicht durch mich herausgefordert, hat im Grunde gar nicht reagiert, ist nicht mal wütend geworden, mich später nochmal drauf angesprochen o.ä. Meine Position ist ja durchaus angreifbar, gut aufgestellte kritische Rationalisten z.B. hätten mir da einiges zu sagen, man kann stundenlang ins Diskutieren kommen. Mit allen Reaktionen könnte ich umgehen, aber nicht mit einer Art Apathie, einer Gleichgültigkeit.

    Das eigentlich Bestürzende an dieser Episode ist mir dann aber später aufgefallen, als mir bewusst wurde, dass die Frau nicht nur etwas macht, das sie überhaupt nicht begründen kann. Sie hat auch kein Bedürfnis, dafür zu streiten, will sich nicht rechtfertigen, und wenn sie in argumentative Schwierigkeiten kommt, hat sie nicht das Bedürfnis, nachzulesen, um beim nächsten Mal besser aufgestellt zu sein. Sie scheint überhaupt nicht davon berührt zu werden oder ein Interesse daran zu haben in dem Sinne, wie Du den Begriff benutzt. Eine ganz ähnliche Einstellung finde ich bei relativ vielen KollegInnen – es ist gar nicht mal so, dass man als jemand, der den Anspruch hat, kritische Sozialforschung zu betreiben, unbedingt auf Gegenwind stößt, angefeindet wird, sondern man stößt auf gar nichts. Es interessiert die Leute einfach nicht. Sie können nichts dazu sagen, haben auch gar keinen Antrieb, das zu tun. Sie werden gar nicht mal dann wütend, weil sie den Inhalt für Quatsch halten, sondern nur wenn man sie stört, wenn man auf Diskussion besteht, sie dazu anhält, ihre Position auch gut begründen zu können. Das regt sie auf.

    Ein bisschen anders gelagert, aber vielleicht dann doch nah dran: die gleiche Kollegin flötet mir, als ich am 16. November 2015 ins Büro komme, ein fröhliches „Na, hattest Du ein schönes Wochenende?“ entgegen. Ich bin irritiert und überfordert und sage, dass ich wegen der Anschläge in Paris eigentlich die ganze Zeit nur vorm Internet gehangen habe, noch ganz verstört bin und gleich erstmal zur Schweigeminute gehe, Die Kollegin scheint irgendwie peinlich berührt, irritiert, geht aber nicht darauf ein, arbeitet weiter, kommt nicht mit zur Schweigeminute und spricht das Thema nie wieder an.

    Das nur als kleine Illustration, weil ich vermute, dass Du da Symptome eines größeren Phänomens schilderst, so etwas wie eine verbreitete Teilnahmslosigkeit oder Gleichgültigkeit, ich würde ja so etwas wie einen allgemeinen Verlust von Bedeutung und Sinn dahinter vermuten. Irritierend aber, dass das (so die Vermutung zutrifft) auch in der Linken ankommt, man würde doch hier eher noch die Betroffenheit, die Wut und Emotion („Feuer und Flamme“/“Trauer zu Widerstand“ etc.) vermuten. Das ist aber sicher quatsch. So wie Du das schilderst, scheint das tatsächlich eher eine Art Konsumhaltung zu sein, mit Georg Lukacs könnte man von einer kontemplativen Haltung sprechen, die auch das ganze Selbst- und Weltverhältnis ergreift. Dann wäre die linke Szene vielleicht tatsächlich eine Art Lifestyle-Angebot, das man mal ausprobiert, aber zu dem man (wie zu allem anderen auch) keine Beziehung mehr aufbaut, weder emotional noch inhaltlich, das nicht mehr zur politischen Sozialisation und zu persönlichen Entwicklung dient. Warum das aber so ist, wäre dann nochmal eine ganz andere Frage.

    Ich kann Dir nur zustimmen, mit Deinem „Ich dachte, das machen alle so“, und der anschließenden Ernüchterung. Die Frage ist ja vielleicht: beobachten wir da einen Verfallsprozess, wird´s tatsächlich alles schlechter mit den Leuten, und wir als welche mit offenbar anderem Sozialisationshintergrund registrieren das besonders sensibel? Oder sind das „normale“ Prozesse bei Leuten, die älter werden und auf die Welt treffen, wie sie eigentlich schon immer war, aber darüber stolpern, weil sie keine persönliche Komfortzone mehr um sich rum haben? Und gleichzeitig gibt es natürlich auch die vielen tollen Gegenbeispiele, die sich die Welt etwas angehen lassen, bei den Linken, aber auch z.B. bei „ganz normalen“ bürgerlichen, teils konservativen Leuten, die ich vor zehn Jahren noch überhaupt nicht wertgeschätzt geschweige denn auch nur ge- und erkannt hätte.

    Da ich jedenfalls nicht mehr dazu neige, bei allen möglichen Phänomenen „Der Kapitalismus war´s!“ zu rufen, sondern auch öfter mal einfach ratlos bin, lass´ ich das jetzt erstmal so stehen. Schöne Grüße, ratlosnetzwerk

    • Rehzi Malzahn sagt:

      Hi, danke für Deine lange Antwort! Zur Eingangsfrage: ja es sind schon meistens die jüngeren, wobei jünger da schon sowas wie unter 40 meint, also sogar meine gleichaltrigen. Man merkt den älteren eine andere Auseinandersetzungskultur an. Die Ratlosigkeit scheint aber auch an ihnen nicht vorbeigegangen zu sein. Was Du beschreibst ist interessant und irgendwie ernüchternd: heutzutage sind es also hauptsächlich die Faschist_innen, die noch für was brennen (im wahrsten Sinne des Wortes leider). Vielleicht macht das auch die Attraktivität aus: diejenigen, die die Gleichgültigkeit wahnsinnig macht, gehen zu Daesh und Consorten, weil da wenigstens noch irgendein Sinn und irgendeine Bedeutung zu finden ist. Und ich bleibe dabei, die einzigen linken Bewegungen, die es damit aufnehmen können, sind die Kurd_innen und die Zapatist_innen. Wenn es noch andere gibt, von denen ich nix weiß, um so besser. Der Rest scheint aber in postmoderner Pampe versunken zu sein. Vor lauter Hochkomplexität und Identitätsdekonstruktion (was ja alles innerhalb eines bestimmten Kontextes seine Berechtigung haben mag) weiß eigentlich niemand mehr, was er_sie noch wollen soll/darf/kann. In zwei Wochen bin ich bei der Sommerakademie von Marianne Gronemeyer, der Titel lautet: »was ich will, weiß ich, aber wer sagt mir, was ich soll?« Vlt ist das ja ein Irrtum, und es stimmt gar nicht, dass die Leute noch wüssten, was sie wollen. Da sie aber auch nichts mehr sollen, fehlt jeglicher Handlungrahmen.
      Das nur kurz, würde diese Diskussion gerne mal persönlich weiterführen. Ahoi

  2. Ich denke, Deine Einschätzung mit der „postmodernen Pampe“ trifft tatsächlich. Denn die schafft nicht nur einerseits ganz viel Freiheit im Denken, sondern kassiert (überspitzt gesagt) gleichzeitig oder als Nebenfolge die Kriterien ein, mit denen man vernünftige Gegenstands- und Weltbezüge überhaupt herstellt – wo alles relativ ist, ist alles auch egal. In diese Lücke gehen die Rechten und Islamisten mit unglaublicher Wucht und behaupten das Gegenteil: es gibt nur eine mögliche Wahrheit. Das ist unglaublich attraktiv, und dem scheinen derzeit weder Linke noch die Gesellschaft an sich noch etwas entgegenzusetzen zu haben. Man müsste also z.B. im Bildungssektor auf Ursachensuche gehen, und würde da vielleicht auf Symptome allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen und Verfallsprozessen gerade in demokratischen westlichen Gesellschaften stoßen, die sich dann auf der Mikroebene z.B. in der von Dir beschriebenen Gleichgültigkeit äußern.

    Zwei Lektürehinweise in diesem Themenkomplex, die mir spontan dazu einfallen, vielleicht kennst Du (und wer hier sonst noch so mitliest…) sie noch nicht:

    Maurizio Ferraris (2012): Manifest des neuen Realismus. Frankfurt am Main: Klostermann.

    Jacques de Saint Victor (2015): Die Antipolitischen. Hamburg: Hamburger Edition.

    De Saint Victor widmet sich der Frage, wie bestimmte Entwicklungwn z.B. im Internet und bestimmte (vermeintlich) emanzipatorische Agenden von aktuellen linken Bewegungen wie der ständigen Forderung nach Transparenz und „liquid democracy“ im Kern antiemanzipatorische Effekte haben, auf das Verschwinden von Vermittlungsinstanzen hinauslaufen und Urteilsfähigkeit durch Willkür ersetzen. Ferraris entwickelt eine ganz spannende Postmodernekritik, die allerdings meiner Ansicht nach manchmal selbst droht, ins Reaktionäre abzurutschen -trotzdem lesenswert und herausfordernd!

    Falls Dein letzter Satz auf mich gemünzt ist: Emailadresse hast Du ja!

  3. Markus Porz sagt:

    Zunächst etwas vorab: nein, du wirkst bestimmt nicht unkommunikativ (eher im Gegenteil), noch ist deine Lesung überfordernd. Ich war bei einer zugegen, hatte das Buch vorher nicht gelesen und konnte dir trotzdem folgen. Von daher…

    Aber auch mir, der ich als „Aussteiger“ linke Veranstaltungen nur noch sporadisch besuche, war an dem Abend, an dem ich deine Lesung besuchte (es war eine andere als die, auf die du dich beziehst), aufgefallen, dass eine wirkliche Diskussion nicht zu Stande kommen wollte. Es war eher zäh, tröpfelte so vor sich hin und beschränkte sich auf vorsichtige Nachfragen und einige persönliche Randbemerkungen. Und irgendwie schienen alle Anwesenden (also die im Publikum) froh, dass es dann irgendwann „endlich“ vorbei war und man zum „gemütlichen“ Teil des Abends übergehen konnte. Ich habe dann noch mit einem Freund (wir sind beide über 50) und ein paar jungen Aktivisten (es waren nur Jungs) aus der lokalen Antifa-Szene (alle so Ende 20, Anfang 30) „auf ein Bierchen“ an einem Tisch gesessen und war gespannt, ob deine Lesung und das Buch noch zum Thema des Gesprächs am Tisch werden. Nichts kam. Gar nichts! Man war um uns rum sofort wieder im eigenen, kleinen linken Alltag: hast du X. wegen dem und dem angerufen, hat sich Y. wegen diesem oder jenem schon gemeldet. Kein fand ich gut, fand ich scheisse oder überhaupt irgendwas. Wir beiden älteren fanden das, wie wir auf dem gemeinsamen Weg nach Hause feststellten, ein wenig bizarr, hatten aber auch beide keine Lust gehabt das in der Situation aufzubrechen. Letztendlich bestätigte sich für mich da nur ein Eindruck, den ich schon länger habe: je marginalisierter die Linke ist, desto stärker kreist man in den eigenen kleinen Szenen und Subszenen offensichtlich um sich selbst. Man hat seine ein, zwei „Issues“, die einem am Herzen liegen (bei unseren jungen, durchaus klugen und aufgeschlossenen Tischgenossen sind das Antifa und Klimapolitik), aber alles was jenseits davon ist wird nur noch am Rande wahrgenommen. Also hat man auch keine Fragen oder Rückfragen zu Themen, die jenseits der eigenen Themen liegen. Man konzentriert sich auf das, was durch die Wahl der eigenen Themen das jeweils nahe liegende und subjektiv notwendige ist (z.B. die Vorbereitung der nächsten Demo gegen einen Naziaufmarsch o.ä.), ist in den jeweiligen Bereichen teilweise hyperaktiv unterwegs, aber außer einem eher diffusen, oftmals auch nur rhetorischen Kapitalismusbegriff (der ist halt an allem Schuld, irgendwie) gibt es da keine Meta-Ebene, die es einem ermöglichen würde, sich konstruktiv, kritisch und auch spontan (mit dem Risiko des Irrens) mit einem Thema auseinanderzusetzen, dass eben nicht das eigene „Lieblingsthema“ ist. In seinem eigene Geviert fühlt man sich sicher und zu Hause (also ganz ähnlich wie die Kollegin von „ratlosnetzwerk“), aber alles jenseits davon, wird weitgehend ausgeblendet, anscheinend nur noch „konsumistisch“ wahrgenommen. Das ist jetzt nicht als Kritik an dem überwiegend jungem Publikum jenes Abends, an bestimmte Szenen gemeint (das wäre arrogant), sondern eher eine Art fragend-ratlose Feststellung im Sinne eines „Ist-das-wirklich-so?“.

    Hinzu kommt beim Thema deines Buches, dass es eben auch eine Ebene betrifft, über die gerade Männer nur ungern reden: Gefühle. Sich auf eine Diskussion einzulassen, bedeutet bei deinem Buch auch eigene Ängste, Zweifel, Trauer etc. zuzulassen: Was wird mit mir sein, wenn ich 50 bin? War meine eigene Entscheidung mich zurückzuziehen richtig? Warum mache ich das Ganze überhaupt? Warum nicht mehr? Würde ich es gerne anders haben wollen? War meine Entscheidung, ob nun so oder so, richtig? Alles Fragen, die unmittelbar die eigene Identität berühren und wo es zumindest Männern im Allgemeinen schwer fällt drüber zu reden. Wobei ich aber auch Zweifel habe, ob Mann oder Frau im Kontext einer Diskussion nach einer Lesung damit am „richtigen Ort“ wäre, ob hierfür dann nicht ein anderer Rahmen, ein anderes Setting besser wäre,

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