Am 29. August wäre Michael Jackson 60 Jahre als geworden. Zeit für eine Ehrenrettung. [Lange Fassung des in der »Jungen Welt« veröffentlichten Artikels.]
Der universalistische Freak Michael Jackson.
„Ein ewig Rätsel bleiben will ich, mir und anderen“ – Ludwig II, König von Bayern
Politix
Dass Michael Jackson ein politischer Künstler war, haben die Wenigsten zu seinen Lebzeiten begriffen. Die Wenigsten der gesellschaftlich Privilegierten. Für die Schwarze Communtiy der USA, kolonialistisch Unterdrückte oder jugendliche Außenseiter*innen in aller Welt war es dagegen deutlich. Zwar hat sich MJ nie einer Partei oder Bewegung angeschlossen, keine ideologischen Statements abgeliefert und sich selten zu Themen geäußert, wie es politische Künstler*innen gewöhnlich tun und es auch von ihnen erwartet wird. Aber explizite politische Inhalte bestimmten häufiger als bei vielen anderen Popstars seine Songs. MJ sang und tanzte mit Straßengangs (Beat it), drehte Videos mit Slumbewohner*innen und sozialen Gefangenen (They don’t care about us), reiste als erster US-amerikanischer Sänger in die UDSSR – gerade so, als wären Schranken nur zum Einreißen gedacht.
Mag es auch kindliche Naivität gewesen sein, mit der er in Songs wie „Black or White“ oder „Earth Song“ gesellschaftliche Missstände anprangerte – naiv, weil es stets ein Appell an das Wohlverhalten der Individuen blieb und jeder Analyse von Herrschaftsverhältnissen entbehrte – es war trotz oder gerade wegen dieser Naivität glaubwürdig. Wieviele habe ihn genau deswegen verehrt: weil er das Gefühl vermittelte, es ernst zu meinen; nicht auf Basis einer Theorie sondern aus der Überzeugung des Herzens heraus. Wer sich darauf einließ, konnte es fühlen – so direkt und unvermittelt, dass daraus eine Verbindung entstand, die Außenstehenden unheimlich erschienen sein mag, und die bei den Fans natürlich zu einem großen Teil aus Projektion und Übertragung bestand. Manchmal konnte es einem vorkommen, als wäre mensch Zeug*in der Anwesenheit eines neuen Heilands. Es war geradezu religiös. Seit Elvis wurde um keinen toten Popstar so getrauert – selbst nach dem Jahr der vielen Toten im Pop 2016 stimmt dies noch und verweist Prince auch hier auf den zweiten Platz.
Das wirft Fragen auf. Fragen darüber, welche Bedürfnisse die Person Michael Jackson in so vielen unterschiedlichen Menschen ansprach, Fragen über die Gesellschaft, die diese Bedürfnisse unbefriedigt ließ und eine Persönlichkeit wie die MJs produzierte, Fragen über die Widersprüche, die sich in seinem Leben manifestierten.
LOVE
„We had him“ heißt ein Gedicht, das die Afro-amerikanische Dichterin Maya Angelou anlässlich seines Todes ihm zu Ehren geschrieben hat. Die Rapperin Queen Latifah trug es auf dem Memorial in Los Angeles vor und ergänzte ihre eigene Michael Jackson Geschichte: wie sie ihn von Kindesbeinen an verehrte in jener innigen Beziehung, die so typisch ist für die Bindung zwischen den Fans und MJ: „You believed in Michael, and he believed in you“.
Die Leute meinten das ernst, sie empfanden es genau so. „Every person who loved Michael Jackson believed that they had an intimate relationship with him.“ beschreibt Ellis Cashmore, Weißer Professor für Cultural Studies, die Beziehung zischen MJ und den Menschen, die ihn verehrteni. Michael Jackson war ihr Freund, ihr Bruder, er war für sie da, selbst wenn sie ihn noch nie gesehen hatten und niemals sehen würden. Sie wussten, wenn auch sonst niemand es tat, er verstand sie, er glaubte an sie. „Whether we knew who he was or did not know, he was ours and we were his. We had him.“ so schreibt es Maya Angelou. Besser kann mensch es kaum auf den Punkt bringen.
Sie liebten ihn und er sagte: „I love you more.“ Gefragt, was er fühle wenn er bei Konzerten dieser Masse schreiender Menschen gegenüberstehe, antwortete er schlicht: „Love.“
Um Liebe geht es viel bei MJ, bedingungslose Liebe, von der er immer wieder spricht, dass er sie gegenüber der Welt empfände, und es ist diese Liebe oder zumindest die Behauptung dieser Liebe, für die ihn viele wiederum liebten.
Vom Rand aus, über Grenzen hinweg.
Es ist die Liebe der Freaks, der Menschen, die anders sind, der Norm nicht entsprechen.
Er, der Außenseiter, Sohn einer armen Schwarzen Arbeiterfamilie, der Sonderling mit merkwürdigen Hobbies wie Schimpansenhaltung, das künstlerische Genie, der Freak, war der Seelenbruder der Außenseiter*innen. Als von der Gesellschaft Ausgeschlossener war er ihr Spiegel; als Genie war er einer von ihnen, der gesellschaftliche Mauern eingerissen hatte, sich über Grenzen hinwegsetzte. Zu ihm konnten sie aufschauen, mit ihm konnten sie hoffen. Er hatte alles geschafft und sie hatten ihn, also würde alles möglich sein. Das hat eine messianische Kraft, die noch nach seinem Tod Jugendlichen im Irak den Mut gab, zu singen, zu tanzen, ihr Ding zu machen – gegen eine gesellschaftliche Moral, die sie mit dem Tod bedroht.ii
„He appeals universally“, sagt Ellis Cashmore.
Es ist der Universalismus eines Freaks, in dessen Bild sich alle wiederfinden können, weil es gängige gesellschaftliche Kategorien gesprengt hat: Nicht Mann noch Frau, nicht Schwarz noch Weiß, nicht Erwachsener noch Kind, nicht Arbeiter noch Elite: Cyborg?
Er akzeptierte keine Grenzen: „They say the sky is the limit, and to me that is really true.“ zitiert ihn das Memorial in Los Angeles. Mit fast übermenschlicher Kraft arbeitete er daran, alles zu erreichen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte, seine Phantasie zu verwirklichen, alles zu sein, was er sein wollte. Barrieren niederzureißen, Kategorien zu sprengen. Sein Lieblings-Superheld war Morph von X-Men „because he constantly transforms himself, (…) he’s very mysterious. He can be all things, become all things. That’s exciting to me.“iii
MJ war eine universalistische, ausgestoßene und wahnsinnig erfolgreiche Kunstfigur, die gleichzeitig an ihrer Authentizität keinen Zweifel aufkommen lassen möchte. Wer Michael Jackson gerecht werden will, muss eine Menge Widersprüche aushalten.
Freakshow
Auf die „Normalen“ übt der Freak eine enorme Faszination aus. Sie sehen ihn nicht als Bruder, sondern als den Anderen, den Nicht-Normalen. Es ist die Faszination des Grusels. Sie beglotzen ihn in Kuriosiätenkabinetten oder auf Youtube und hänseln ihn in der Schule, den Ausschluss stets erneuernd. Die Normalen können von den Freaks nicht lassen, denn ihre Existenz stellt die Normalität in Frage.
Ein Genie von der Größe Michael Jacksons findet daher auch viele Bewunderer_innen unter den Normalen, es bleibt aber die Faszination für das radikal Andere, die jederzeit in Ekel umschlagen kann und dann den Ausschluss, der den Freak ursprünglich einmal erst zum Freak gemacht hat, wiederholt und bestätigt. Bewundert wird der Freak von den Normalen nur, solange er erfolgreich ist und sein Freakigsein eine exzentrische Dekoration ist, die nicht im Weg steht oder unangenehm ist. Solange sein Glanz auch auf die Normalen abfällt, sonnen sie sich darin. Als Genie wird dem Freak ein Platz über dem Durchschnitt zugebilligt, fällt er aus der Gunst, ist er wieder das Monster, das außerhalb und unterhalb der Normalen steht. Verbundenheit entsteht nicht. Gleichheit findet der Freak nur unter Gleichen.
Black or White
Diese Gleichen waren für Michael Jackson ganz besonders die Schwarze Community in den USA und PoCs weltweit.
Gemessen an der Weißen Norm sind PoCs quasi Freaks, besonders einer, der auf einmal nicht mehr Schwarz aussieht. Niemand in der Schwarzen Community hatte mit der Veränderung von MJs Hautfarbe solche Probleme wie die Weiße Öffentlichkeit. Zwar gab es Schwarze Stimmen, die ihm einen Ausverkauf der Schwarzen Identität vorwarfen, im Großen und Ganzen aber war klar, dass MJ einer von ihnen war und blieb, etwas, was er immer wieder betont hat: „I don’t have to look in the mirror. I know I’m black.“iv
Eine Sichtweise, die der Schwarze Schriftsteller Ekow Eshun bestätigt: „He doesn’t stop being Black. Blackness is about culture, Blackness is about how you look at the world. And I think in those terms Michael Jackson remains Black“v.
Für Weiße jedoch scheint ein Schwarzer, der nicht mehr schwarz aussieht, das ultimative Rätsel und ein unerhörter Angriff zu sein. Die Haut, die Haare, die Nase – nichts an seinem Körper blieb undebattiert, Die Haut leide unter einer Pigmentstörung namens Vitiligo, die sie durchsichtig werden lässt, und wenn alle Schönheitsoperierten von Hollywood gleichzeitig in Urlaub führen, wäre die Stadt leer, verteidigte sich MJ: Warum seine Nasenkorrektur so etwas besonderes sei?vi
Abgesehen davon, dass er tatsächlich irgendwann kaum mehr sich selbst glich (manche vermuten, dass er so sein Erwachsenwerden verhindern und sich Peter Pan annähern wollte): weil es eine Schwarze Nase war. Während Weiße sich wie selbstverständlich in Sonnenstudios oder am Strand bräunen, wird dem Schwarzen nicht einmal eine Hautkrankheit zugestanden. Während Weiße ihre Haare färben und dauerwellen, ist das Glätten oder Verlängern bei einem Schwarzen verdächtig. Während ein Haufen weißer Hollywood-diven allerlei Geschlechts aufgepumpt und vollgespritzt sind bis zum geht nicht mehr, war seine Gesichtschirurgie unheimlich. Dem Weißen Diskurs über Michael Jackson wohnte stets ein tiefsitzender Rassismus inne.
Das Schwarze Reden über Michael Jackson war ganz anders. Schwarze kamen wesentlich besser mit dem Anders-sein des Michael Jackson zurecht. Die Vielfalt der PoCs, die Erfahrung, selbst einen nicht weiss-normgerechten Körper zu haben und das Wissen darum, wie dieser sich verändern kann und gestalten lässt, scheint der Erscheinung MJs unter PoCs relativ viel Normalität verliehen zu haben.
Es gehört zur Widersprüchlichkeit seiner Person, diese vordergründige Echtheit von Krankheit und ein bisschen Chirurgie (nicht zu vergessen die Auswirkungen des Unfalls für den Pepsi-werbespot, bei dem er sih Verbrennungen dritten Grades zuzog) mit übertriebenem Styling konterkariert zu haben. Make-up, Frisur und Kleidung waren stets dermaßen jugendlich, androgyn und phantastisch durchinszeniert, dass es keiner mehr für echt hielt, als er sich einmal einen Bart wachsen ließ.
Black Power
Doch in der Black Comunity ging es weniger um sein Äußeres, als um die emanzipatorische gesellschaftliche Leistung. Die Jackson 5 waren in den Sechzigern „a chance for the Black Comunity to have somebody to scream and shout at“vii. Mit Stolz bezogen sich Schwarze Kids auf die Jackson 5 und später auf Michael. Endlich gab es eine eigene, sexy Boygroup wie die Weißen sie hatten, und dann ihn, den Superstar. Diese Möglichkeit, als Schwarze ein Schwarzes Idol von universeller Reichweite, eines, das die Weißen nicht ignorieren konnten, anhimmeln zu können, war ein wichtiger Boost im Selbstbewusstsein vieler Schwarzer Kids. Bisher waren Schwarze Musiker*innen Spartenmusiker*innen für die Schwarze Community und Weiße Freaks. Sie wurden systematisch benachteiligt, weil sie angeblich „nur ein begrenztes Publikum hatten“ (ehem. CBS Vizepräsident Larkin Arnold)viii.
Erst Michael Jackson durchbrach diese Barriere. Noch „Off The Wall“ war ein unverdienter Grammy-flop, erst mit „Thriller“ konnten sie ihn nicht mehr ignorieren. MTV hätte ironischerweise ohne MJs Videos niemals die Bedeutung erlangt, die es später hatte, und doch musste der Sender von seiner Plattenfirma dazu gezwungen, das Video zu „Beat it“ zu zeigen: „MTV didn’t have black people on it. MTV came out of Chicago, and it was about Rock and Roll. Rock’N’Roll equals white.“ konstatiert die Schwarze Schriftstellerin Bonnie Greer.ix Bob Giraldi, der Regisseur von „Beat it“ erzählt: „I do know that after a lot of pushing and shoving and pressuring, it (the Beat it video) did get on (television). It paved the way for many Black artists. So yeah, it was a big deal.“x
Dass die Präsenz von Schwarzen im Musikgeschäft heute als etwas Normales angesehen wird (wesentlich normaler als im Film!), ist ganz entscheidend (auch) Michael Jacksons Kampf gegen die rassistischen Ausschlüsse zu verdanken. Dass das Musikgeschäft jedoch weit entfernt davon ist, unrassistisch zu sein, beklagte Michael Jackson noch 2002 in einer Rede vor der Schwarzen Bürgerrechtsorganisation „National Action Network“ in Harlem.xi
Zahlreiche Schwarze Persönlichkeiten haben MJ für seinen Einsatz Anerkennung gezollt. In einer sehr bewegenden Szene dankt der Schwarze Radiomoderator Steve Harvey MJ in einem Telefoninterview: „I don’t know if anybody’s ever said ‚Thank You‘ to you, for the way you put it down, for all the music you gave us. (…) You have meant a lot to people. And you mean something to Black people, and don’t ever think you don’t and you haven’t.“xii
Age ain’t nothing but a number?
Der tragischste Aspekt des Universalisten Michael Jackson ist sicherlich der Versuch, das Alter zu überwinden. Für einen erwachsenen Mann, der ein Kind sein möchte oder sich als Kind fühlt, gibt es wenig Verständnis und keine Community, außer der der Kinder. Als Erwachsener mit Kindern befreundet zu sein, mutet der Gesellschaft der Erwachsenen, die das Kindsein als etwas Vorübergehendes, zu Überwindendes betrachtet, jedoch seltsam an. Die Welt der Kinder ist für Erwachsene unzugänglich, sie sind ausgeschlossen. Jemand, der diese Grenze überwinden kann, ist unheimlich oder unreif, auf jeden Fall nicht ganz bei Trost. Wenn MJ das konnte, so konnte er es jedoch den Erwachsenen nicht erklären. Die Kind-Identität bedingt eine Sprachlosigkeit über sich selbst. Wie erklärt der Mann, der ein Kind ist, sich der Welt der Erwachsenen? Die Kommunikation muss scheitern. Man steht verständnislos voreinander.
Aus dem liebenswürdigen und bewunderten Genie wurde das verabscheuungswürdige Monster, faszinierend gruselig. Der Freak bekam endlich wieder den Platz, den die Gesellschaft ihm von Anfang an zugedacht hatte: draußen und unten. Und ab diesem Punkt spuckte es sich auch wieder ganz gut auf den Verstoßenen.
Michael Jackson hat das Machtgefälle zwischen sich als Mann und Star und den Kindern, mit denen er sich umgab, sehr augenscheinlich nicht gesehen oder nicht ernstgenommen. Es war einem Teil seiner Identität nicht verstehbar, dass Erwachsene gegenüber Kindern eine Verantwortung tragen und niemals gleiche sind; dass, was unter Kindern harmlos sein kann, zwischen Erwachsenen und Kindern problematisch ist; vielleicht: dass er ein Erwachsener ist!
Die Justiz hat ihn vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs freigesprochen, für eine emanzipatorische Haltung ist das jedoch kein Maßstab, der bürgerlichen Justiz ist nicht zu trauen. Der Fall ist tragisch, weil er so viele Widersprüche aufgewirbelt hat, an denen MJ vermutlich am Ende zu Grunde ging. In etlichen Songs hat er sich gegen die Vorwürfe und die Art, wie mit ihm umgesprungen wurde, gewehrt. Es gibt keinen Grund, ihm das nicht abzunehmen. Wissen tun wir freilich nichts.
Maskulinity trouble
Es verbietet sich, die Aussagen der Kinder nicht ernst zunehmen. Es ist gleichzeitig jedoch nicht zu leugnen, dass Eltern aus finanziellen Gründen ein Interesse daran hatten, Umstände zu dramatisieren, die vielleicht nicht dramatisch waren. Michael Jackson selber hat die Intimität mit den Kindern nie geleugnet, allerdings stets betont, dass sie nicht sexueller Art war. War das wirklich immer eindeutig? Ist die Wahrnehmung eines Kind-Mannes diesbezüglich vertrauenswürdig?
MJ fiel in ein moralisches schwarzes Loch, in einen Widerspruch, der unauflösbar bleibt: Er ist Verdächtiger in einer Kultur, die Opfer zu lange verhöhnt hat und dies nun besser machen will, aber auch Opfer einer Kultur, deren Männlichkeitsbild zutiefst gestört ist. Die männliche Sexualität gilt als bedrohlich, nicht ohne Grund.
Doch Männer unter Generalverdacht zu stellen, tut ihnen Unrecht und hilft nicht weiter. Das Verhältnis Mann-Kind wird zerstört, Mütterlichkeit etwas, das nur Frauen zugestanden wird – und auf das sie dann zurückgeworfen werden. Eine Frau, die sich mit Kindern umgibt, gilt als unverdächtig, vermutlich genau deswegen, weil die Gesellschaft Mütterlichkeit immer noch insgeheim als eigentliche oder wahre Berufung der Frau ansieht. Dem Mann wird sie dagegen komplett abgesprochen, sein Verhältnis zu Kindern erscheint zwielichtig, verdächtig. Es scheint schwer vorstellbar, dass Männer mütterliche Gefühle zu Kindern haben, sie lieben und eine fürsorgliche Beziehung zu ihnen aufbauen können ohne sexualisierte, gewaltvolle Hintergedanken. Umgekehrt nimmt die Zuschreibung Frau-Mütterlichkeit die Gewalttätigkeit und das missbräuchliche Verhalten von Frauen nicht ernst und zementiert die Ungleichheit ein weiteres Mal. Während die Statistik diesen Zuschreibungen Recht zu geben scheint – schließlich geht der überragende Anteil an (sexualisierten) Gewalttaten auf das Konto der Männer – werden diejenigen, die nicht in die Norm passen, mit der Unmöglichkeit ihres Daseins konfrontiert. Als Mann kannst du keine mütterlichen Gefühle haben, das ist nicht vorgesehen, das kann nur pervers sein, du bist ein Freak. Noch komplizierter wird es, wenn du nicht mal ein Mann sein willst.
MJ hat sich selten wie ein „typischer“ Mann verhalten. Seine Singstimme hat er Diana Ross abgeschaut und sich somit einen weiblichen Vocalism gegeben. Auch die Sprechstimme ist dünn und leise, als wolle sie den Stimmbruch, die Mannwerdung verneinen. Michael Jackson war nie ein lauter, polternder Mann. In Interviews spricht er von seiner Verletzlichkeit, offenbart seine Kindlichkeit. Auch die Momente, in denen er vor laufender Kamera ängstlich zitternd über sein Kindheitstrauma und die väterlichen Misshandlungen spricht, passen wenig zum immer noch gängigen Männlichkeitsbild. Welcher erwachsene Mann zeigt öffentlich seine immer noch wirkende Angst vor dem Vater?
Diese emotionale Weichheit ging einher mit einer ausgeprägten Scheu, sich als sexuelle Person zu erkennen zu geben. Er zeigte sich nicht mit Geliebten, sprach nicht gern darüber und je weniger an die Öffentlichkeit drang, desto größer wurde das Geheimnis, um das sich diverse Gerüchte rankten: er sei schwul, transsexuell oder zoophil (wegen der Haltung des Schimpansen Bubbles). Natürlich: das Rätsel als Projektionsfläche. So fühlten sich sowohl Oprah Winfrey als auch Martin Bashir genötigt, ihn nach seinem Sexleben zu fragen: Ob er noch Jungfrau sei, fragt Winfrey den damals 34-jährigen. Er verweigert die Auskunft. Ob er seine Kinder mit Debbie Rowe „natürlich“ gezeugt habe, also wirklich Sex mit ihr hatte, interessiert sich Bashir zehn Jahre später. Auch das Zitat von seiner ersten Ehefrau Lisa Marie Presley, sie habe ein sexuell aktives Eheleben mit ihm geführt, wurde immer wieder von den Medien aufgegriffen. Seine öffentliche Wahrnehmung war die eines asexuellen Wesens. Was ja auch vollkommen ok, aber eben sehr „unmännlich“ wäre.
Umso verwirrender, vielleicht schockierender wirkt daher die Tanzbewegung, bei der er sich offensiv in den Schritt greift und Fick-bewegungen nachahmt. Wie ist das gemeint? Als Behauptung einer erwachsenen Sexualität, als Beweis seiner Männlichkeit oder ist es ein Zitat aus den sexualisierten Tänzen afro-amerikanischer Subkulturen wie Ghetto-Tekk und Dancehall? Die Antwort, die er Oprah Winfrey gibt, ist nicht überzeugend: es entstehe spontan aus der Energie der Musik – Michael Jackson war ein perfektionistischer Choreograph, der nichts dem Zufall überließ: er, der für den Auftritt mit dem Song Billie Jean bei der Show zu Motown 25 die Wirkung eines einzelnen weißen Glitzerhandschuhs kalkulierte. Es ist, als fühle sich ein kleiner Junge bei etwas Verbotenem ertappt und suche fieberhaft nach einer Ausrede.
This is it
Michael Jackson ernst zu nehmen, heißt, Widersprüche auszuhalten und zu verstehen, dass wir so gut wie nichts über ihn wissen, er uns aber viel über uns erzählt. Unser Verhältnis zu ihm offenbart eine ganze Reihe gesellschaftlicher Mechanismen der Kategorisierung, der Ausgrenzung, der Inszenierung, der Spektakels.
Während er stets die absolute Echtheit all seiner Äußerungen behauptete, war unweigerlich alles bereits Teil einer Inszenierung, der großen Show seines Lebens. „Singing a song, I don’t sing it if I don’t mean it.“ sagte er als 14 jähriger in einem Interview, und bekräftigte diese Haltung sein Leben lang: „I think it’s important to be honest. To be an honest performer.“xiii Jeder Rapper behauptet heute das absolute Gegenteil: dass nichts gemeint sei, wie es gesagt ist.
Im Pop Authentizität zu behaupten gleicht einer Quadratur des Kreises: Pop reklamiert für sich ja gerade die Künstlichkeit, die Ironie, die Performance als Spiel mit Wahrheit und Wirklichkeit. Ist Michael Jackson einfach der, der dieses Spiel auf die Spitze getrieben hat bis zur Unkenntlichkeit, der die Widersprüche wortwörtlich zum Tanzen brachte? Oder ist es wahr: Auf der Bühne ein Meister der Inszenierung, der Herr über jeden Handgriff, ein Perfektionist und außerhalb des Rampenlichts ein schüchternes Kind?
Er war das von ihm selbst mit Perfektionismus geschaffene Kunstwerk, das auf Wahrhaftigkeit pocht. Ein Virtuose des Phantastischen – Traumwelten, Kostüme, Visionen – und ein ehrlicher, empfindsamer Sänger, der Leiden mitempfindet und Ungerechtigkeit anprangert. Michael Jackson war die personifizierte Dialektik von Artifiziellem und Authentizität. In diesem Spannungsfeld schuf er einen Raum, der die Wünsche, Träume, Sorgen seiner Fans barg. Die Uneindeutigkeit als Projektionsfläche. Ein ewig Rätsel bleiben wird er.
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iBBC Fernsehdokumentation „The Essential Michael Jackson“, 2002
ii „Bagdad’s Smooth Criminals“ von Andrea Milluzzi, Jungle World 6/13
iiiLive Chat 1995 in den Sony Studios, auf www.youtube.com/watch?v=k0CP0CL7yEQ
ivRede vor dem National Action Network in Harlem, www.youtube.com/watch?v=k7WP4prIwUQ
vBBC Fernsehdokumentation „The Essential Michael Jackson“, 2002
viInterview „Michael Jackson talks to Oprah Winfrey“, ABC 1993
vii Mark Ellie, Choreograf, in BBC Fernsehdokumentation „The Essential Michael Jackson“, 2002
viii BBC Fernsehdokumentation „The Essential Michael Jackson“, 2002
ixEbd.
xEbd.
xiwww.youtube.com/watch?v=k7WP4prIwUQ
xiiSteve Harvey Morning Show 2002, Radio One
xiii Auszug aus dem Interview mit Martin Bashir, Minute 4:33, www.youtube.com/watch?v=UjoIDfsckYY