»Verwundbar ist jeder Mensch, besonders an den Stellen, an denen er irgendeinmal (sic) verletzt worden ist. So kommt es nur darauf an was einer daraus macht. Die Wehleidigen leiten daraus den Anspruch auf besondere Schonung ab – und das bedeutet für sie häufig das Vorrecht, jeden anzugreifen: in einer vorweggenommenen Notwehr, sagen sie. Die Welt wird immer von den Wehrufen jener betäubt, die sich anschicken, anderen zu verletzen, ihnen ihr Gesetz des Handelns aufzuzwingen, um die Erfüllung des eigenen Überanspruchs zu erzwingen. Dieses Vorgehen kennzeichnet den offenbaren oder geheimen Lebensstil vieler Neurotiker.« S.37
»Der Neurotiker, der alle seine Taten, sein Versagen und sein Leiden psychologisch auf die Vergangenheit und diese wiederum auf die Vergangenheit anderer, der Eltern vor allem, zurückführte, hoffte, solcherart eine schrankenlose Freiheit zu erringen. In der Tat vernebelte er jedoch damit seine Gegenwart. War er sich selbst ein Produkt – wie sollte er wahlfrei seine Zukunft produzieren? Die Freiheit von ist notwendig, total wäre sie jedoch nur einem Toten erreichbar, wenn ihm überhaupt etwas erreichbar wäre. Die Freiheit zu hat nur Wert, wenn sie von dem errungen wird, der die Verantwortung für sein Werden und sein Tun auf sich nimmt, statt sie bei den Eltern, den Vorfahren zu suchen und stets mühelos da zu finden; er würde sie in den Gräbern Adams und Evas aufstöbern, hätte er Zugang zu ihnen.« S.153 (Und man möchte hinzufügen: gleiches gilt für das nimmermüde Suchen im Außen der „Gesellschaft“, der man sicherlich einiges anlasten kann – bei der eigenen Verantwortung für’s eigene Leben bleibt es dennoch.)
Manes Sperber, jüdischer Kommunist und Schüler Alfred Adlers, sowie Pionier der Individualpsychologie,
in: Die vergebliche Warnung. All das Vergangene… DTV München 1983