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Denken hilft

Wenn linke Justiz hinter bürgerliches Recht zurückfällt, anstatt darüber hinauszugehen, ist das keine Emanzipation.

Das ist nur ein Aspekt dessen, was falsch ist an diesem «Outing», das derzeit läuft. (Ich verlinke das hier nicht, es ist mir alles zu blöde).

Es wird mit Begriffen hantiert, ohne diese zu definieren und zu benennen. Hinter «Opferschutz» versteckt sich jede noch so totalitäre Maßnahme, und wer das kritisiert, ist dann automatische «Täterschützer*in». Nicht nur, dass gar nicht klar wird, wer wovor wodurch konkret Schutz braucht und ob die Maßnahme dafür geeignet ist und im Verhältnis zu den Vorwürfen steht; Nein: «wer nicht für mich ist, ist gegen mich» – Logik at its best. Die Welt ist also schwarz und weiß und ansonsten gibt es nichts. Wie traurig.

Eine große bundesweite Organisation schafft es nicht, die Dynamiken und Mechanismen ihrer Maßnahmen zu reflektieren und mitzudenken. Am Tribunal hätte der Angeklagte nur teilnehmen dürfen, wenn er sich schuldig bekannt hätte. «Selbstkritik» 2.0. Zudem ist diese Person also ein derartiges Monster, dass etwas anderes als sozialer Mord nicht in Frage zu kommen scheint, und dabei wirft man dann ohne mit der Wimper zu zucken gleich noch seine Familie mit unter den Bus, will dafür aber nicht verantwortlich sein, weil daran wäre er ja selbst Schuld (Wem der Begriff sozialer Mord zu krass ist, darf «sozialer Tod» googeln. Das ist es, was hier passiert). Wie schön ist doch die Welt, wenn alles so einfach ist.

Es wird viel mit Sicherheit argumentiert, ohne dass irgendwer mal auf die Idee kommt, eine kritische Hinterfragung dieses Begriffes vorzunehmen. Linke Politik ist jetzt also auch Sicherheitspolitik. Zu hinterfragen, was dieses komische Sicherheitsparadigma unter neoliberalen Vorzeichen eigentlich für eine Bedeutung hat, dafür reicht es nicht. Ich kann das Gelaber von «sicheren Räumen» nicht mehr hören. Das Bedürfnis nach Ruhe und Geborgenheit und ja, auch Sicherheit, kann ich verstehen, ich teile es, ja ich habe das auch. Gleichzeitig weiß ich, dass es keine Sicherheit gibt, in dieser Gesellschaft so nicht geben kann. Dass das eine Argumentation ist, die seit geraumer Zeit für stets noch totalitärere Maßnahmen herhält. Dass es dabei eine Juridifikation aller Lebensbereiche gibt, alles muss abgesichert werden. Dagegen kann man scheinbar nichts sagen. Wer ist schon gegen Sicherheit? Das ist aber hochproblematisch und sehr gefährlich! Wir haben es hier mit einem widersprüchlichen Feld zu tun, und dem gerecht zu werden, darüber kollektiv zu reflektieren, das wäre emanzipatorische und kritische Politik. Aber derzeit ist Denkfaulheit eher in Mode.

Es ist aber noch schlimmer. Linke Justiz wird ja nicht einmal diesem ihrem eigenen Sicherheitsparadigma gerecht. Denn wenn es um Sicherheit geht, und das die oberste Priorität ist, dann würde man doch vermuten, dass alles daran gesetzt wird, genau zu ergründen, was es dafür bedarf. Aber nein. Mitnichten. Stattdessen wird die gleiche Kurzschlusspraxis, die seit 40 Jahren, wenn nicht seit 200 Jahren nicht zum gewünschten Ergebnis führt, mit den immer noch gleichen Argumenten wiederholt und fortgeschrieben. Nicht nur, dass man sich fragen könnte, ob eine Maßnahme sinnvoll ist, wenn sie seit Jahrzehnten nicht zu dem führt, was man sich wünscht, man schafft es nicht einmal zu begreifen, dass sie sogar zum Gegenteil führt. Ausschluss, Outing und Rache sollen also potenzielle «Täter*innen» einschüchtern und so zu mehr Sicherheit führen. Der Trugschluss ist, dass die «Täter*innen» die anderen sind. Wahr ist, dass alle, jede*r!, bereits grenzverletzendes Verhalten in unterschiedlichem Ausmaß begangen hat, was bedeutet, dass 1. dieses Vorgehen zu einem Klima der Angst führt, in dem sich niemand mehr traut, Kritik zu üben oder offen über Fehler zu sprechen, weil man mit dem sozialen Tod rechnen muss (ja absichtlich so drastisch geschrieben) und 2. die kollektive Dimension des Problems nicht begriffen wird. 3. bedeutet das, dass es «Frieden» nur gibt, solange dieser Druck aufrecht erhalten wird.

Das ist für Betroffene katastrophal und genau kein sicherer Raum. Warum? Weil dadurch keine kollektive Lösung gesucht wird, Menschen nicht aus ihren Fehlern lernen und sich ändern, weil diese ja gar nicht mehr besprechbar sind sondern nur unterdrückt wurden, sowie die Person, die aktuell geoutet wird, immer nur die ist, die erwischt wurde, während alles andere unbehandelt bleibt. Eigentlich könnte man sogar sagen, dass das diejenigen, die noch nicht geoutet wurden, sogar zu den gefährlicheren macht, weil sie ihre Gewalt besser verstecken können. Ich kann mich nur wiederholen: es gibt keinen Club der besseren Menschen. Es gibt keine sicheren Räume mit reinen, gewaltfreien Menschen, die niemals einer Fliege etwas zu leide getan haben. Nach dem Outing ist immer vor dem nächsten Outing und nichts ändert sich.

Anstatt also ernstzunehmen, dass Gewalt etwas ist, dass uns alle durchzieht, und daraus die Konsequenzen zu ziehen, wird stur der immer gleiche Mechanismus durchgezogen, und das mit einem vor sich hergetragenen moralischen Anspruch, der jede Kritik sofort zunichte macht. Ich werde mich aber dieser linken Denkfaulheit nicht beugen. Wer von kollektiver Verantwortung nicht sprechen will, soll von Opferschutz schweigen. Für Betroffene von Gewalt ist es wichtig, dass die Gewalt aufhört. Individuell wie kollektiv. Dafür muss die Gewalt begriffen werden, davon ist diese Szene meilenweit entfernt. Man kann etwas, das man nicht besprechen kann, weil man Angst davor hat, nicht begreifen und nicht transformieren.

Es braucht eine positive Fehlerkultur. Es braucht offenes Reden über Unsicherheiten. Es braucht eine positive und aufgeklärte Sexualkultur. Es braucht persönliches Engagement untereinander, bei dem man sich gegenseitig in das Leben einmischt. Es braucht vor Allem Cis-Männer, die lernen über ihren Sex und ihre Ängste und ihre Unsicherheiten zu sprechen. Miteinander. Das allermeiste an sexualisierter Gewalt passiert aus Unwissenheit, aus Unsicherheit, aus Tolpatschigkeit und Kommunikationsfehlern. Hier ist Prävention durch eine positive und offene Kultur möglich. Das wäre die Basis, und dann könnte man darauf aufbauend darüber reden, wie mit jenen Taten umgegangen wird, die absichtsvoll, geplant oder bewusst passieren. Und hierfür wiederum wäre die Basis, dass man die Tatverantwortlichen nicht dämonisiert, sondern ihre Taten verurteilt während man sie als Menschen mit Rechten respektiert, die von dieser Gesellschaft sozialisiert wurden, welche mithin mitverantwortlich ist. Das verweist darauf, dass es um gesellschaftliche Veränderung gehen muss, nicht um individuelle Skandalisierung.

Es ist verständlich, dass Menschen, zumal Betroffene, wütend sind. Ich sollte das hier nicht schreiben müssen, aber um der Frage vorzubeugen, ob ich überhaupt weiß, wovon ich spreche: ich bin selbst mehrfach Betroffene aller möglicher verschieden schwerer Formen sexualisierter, sexueller und sexistischer Gewalt, von Voyeurismus bis versuchtem Femizid. Meine Position speist sich daraus, dass ich will, dass das aufhört. Ich habe mehrfach Betroffene persönlich unterstützt. Und ich habe selber in der Vergangenheit blind bei diesen Praktiken, die ich hier kritisiere, mitgemacht und sie mit flammendem Schwert vertreten. Ich kann diese Position, die Wut, die Ohnmacht, die Rachegelüste, all das, zutiefst verstehen. Ich werfe es niemandem individuell vor, diese Gefühle zu haben und nicht in der Lage zu sein, intelektuelle Oberhand darüber zu gewinnen und Dinge einzuordnen. Eine linke bundesweite Organisation aber, die viele erfahrene und kluge Leute zu ihren Mitgliedern zählt, die auf hohem Niveau politisch agiert, also analysieren, reflektieren und strategisch agieren kann, muss über diesen Punkt hinauskommen. Wenn sie keine Diskussionskultur mehr hat, in der offen über Fragestellungen der Vorgehensweise gestritten werden kann, wenn sie nicht die intellektuelle Kapazität hat, ihr Handeln einzuordnen, ihre Begriffe zu hinterfragen und sich entsprechend theoretisch und historisch zu informieren, ist sie am Ende. Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber entweder erleben wir die xte stalinistische Deformierung einer Organisation, mit einem Klima der Angst intern, in dem Widerspruch auszusprechen nicht mehr gewagt wird, oder eine ganze Organisation mit x Kader*innen hat weniger kritische Kapazität als mein Genosse, der sich fragt, wie diese Vorgänge in die globale Faschisierung einzuordnen sind, welche auf den Leibern ausgetragen wird, und was das für das eigene kollektive Handeln bedeutet; oder meine Genossin, die Überlebende einer evangelikalen Sekte ist und sehr empfindlich auf inquisitorische Tendenzen reagiert, weil das genau das ist, wovor sie in die linke Szene geflohen ist. Und daran wird deutlich: eine Szene, in der es keinen Schutz vor Willkür gibt, in der anonyme Anschuldigung (oder wahlweise auch undefinierte, wie in letzter Zeit Mode ist: dir wird ein Übergriff vorgeworgen, was wann wo und gegen wen sagen wir dir nicht, denk mal selber nach) über Nacht und ohne Möglichkeit der Reflexion und des Dialogs zu sozialem Tod führen, ist kein Ort für Menschen mit Traumageschichte.

Noch einmal: Schutz für Betroffene bedeutet vor Allem, die kollektive Dimension der Gewalt zu begreifen (also theoretisch zu durchdringen!) und die praktischen und sozialen Konsequenzen daraus zu ziehen, was idR heißt, sich nach Verfahren umzusehen, die die Bedürfnisse der Betroffenen ins Zentrum rücken und sie bei der Heilung unterstützen, die Menschenrechte der beschuldigten Person respektieren und ihre Verantwortungsübernahme unterstützen sowie die kollektive Verantwortung für Transformation ernstzunehmen und sich für notwendige Veränderung zu öffnen. Das kann auch mal bedeuten, eine Person temporär geographisch zu beschränken. Es würde aber heißen, das nicht als Standardlösung reflexartig einzusetzen, sondern stets nach konkret angepassten Lösungen zu suchen. Es würde bedeuten, die simple psychologische Wahrheit zu verstehen, dass Angriff zu Verteidigung führt, und Unterstützung und Akzeptanz – kritische! – den Raum für Selbstveränderung und Annahme der Fehler öffnet. Das ist die Erfahrung meiner Arbeit mit Tatverantwortlichen. (Und es ist wirklich nichts besonderes, das ist Basispsychologie.)

Es würde bedeuten, zu begreifen, dass man seine Maßnahmen an den eigenen Zielen messen muss, und nicht einfach irgendwas macht, weil das moralisch gut aussieht, um sich dann zu beklagen, dass die Ergebnisse nicht sind wie gewünscht. Es sind ja immer die anderen Schuld, nicht wahr. Man könnte halt auch einfach begreifen, woran es liegt, und das Vorgehen anpassen. Das setzt voraus, dass man die eigenen Ziele (Opferschutz!) überhaupt ernst nimmt, ich hab da so meine Zweifel manchmal. Es ist leichter zu tun, was sich gut anfühlt, womit man sich moralisch erheben kann, als zu tun was nötig und richtig ist.

Und nicht zuletzt: die derzeitige Praxis, die anonyme oder unkonkrete Anschuldigungen zum Anlass nimmt, Menschen an den Pranger zu stellen oder zu verbannen, öffnet Missbrauch und Willkür Tür und Tor. Diese Praxis ist nicht akzeptabel, egal was für Begründungen man ins Feld führen mag. Es braucht Schutz vor Wilkür. Das bürgerliche Recht hat sich daran orientiert, es scheitert aber an anderen Stellen und ist nicht mein Referenzrahmen. Es ist aber mehr in der Lage, Opferrechte anzuerkennen, als Linke derzeit Angeklagtenrechte. Beide dürfen und müssen nicht gegeneinander ausgespielt werden, die Aufgabe besteht darin, sie miteinander zu verbinden und so über den heutigen Status quo hinauszukommen.

If your feminism isn’t penal abolitionist, it’s not part of any solution.

And I will die on that hill.

Shaming survivors is not ok

Ich weiß nicht, was Leute reitet, die Überlebende von sexualisierter Gewalt ausbuhen. Meine Solidarität den mutigen Betroffenen, die auf dem Parteitag der Partei die Linke ihre Statements abgegeben haben und so schäbig behandelt wurden.

Sollte die Partei nach Leuten suchen, die sie in Sachen Konfliktkultur und Umgangsformen beraten können, hätte ich da ein paar Tipps. You need to build a restorative system, Leute, so geht das nicht.

Kleine Faustregel zum Umgang mit Tatverantwortlichen

Wenn Du möchtest, dass Deine Forderung erfüllt wird, prüfe, ob sie erfüllbar ist.

Das hört sich vielleicht banal an, ist es aber nicht. Unter den Forderungen, die an Tatverantwortliche gestellt werden, sind immer wieder Dinge, die im Alltag schlicht unmöglich umzusetzen sind, die die Persönlichkeitsrechte der Person tief verletzen (Ja, auch ein*e Beschuldigter hat Rechte, zumindest im der Strafjustiz und wir wollen ja nun nicht dahinter zurückfallen, oder) oder sie sind so unkonkret formuliert, dass man nicht weiß, was damit gemeint ist. Es nutzt gar nichts, Dinge zu verlangen, die eine Person einfach nicht umsetzen kann (z.B. in eine Tätergruppe gehen, wenn es eine solche nirgends gibt), und das Nicht-Umsetzen dann mit Sanktionen zu bewähren oder als Zeichen der Nicht-kooperation auszulegen.1

Dazu gehört, nicht nur eine therapeutische Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten zu fordern (völlig ok), sondern eine bestimmte Therapieform vorzuschreiben (übergriffig: ob jemand z.B. eine Psychoanalyse machen will oder kann, muss die Person selber entscheiden, da die Therapieform auch immer zu der Person und ihrem derzeitigen Zustand passen muss); Verbote auszusprechen, die weltweit gelten sollen (ich darf nicht nur in einer Stadt oder einem Bundesland nicht mehr auf eine Veranstaltung, sondern auch nicht auf einem anderen Kontinent) oder zu verlangen, Menschen sollten quasi ab dem ersten Moment eines neuen Kontakts über ihre Gewalt erzählen (das ist einfach im Alltag total weird. Es interessiert mich doch in der Warteschlange vor dem Arbeitsamt überhaupt nicht, was jemand gemacht hat, und ich fände es übergriffig, wenn mir das jemand direkt nach dem Hallo erzählt). Von der merkwürdigen Praxis, Leuten nicht zu sagen, was ihnen vorgeworfen wird, ja noch nicht einmal den Kontext oder Zeitpunkt, mal ganz zu schweigen. (Ich weise das kategorisch zurück.)

Im Prinzip ist es sinnvoll, sich an die SMART-Regeln aus der Konflikt- und Verhandlungsforschung zu halten. Diese besagen: Vereinbarungen sollten

Spezifisch (konkret)

Messbar

Attraktiv“/positiv formuliert (was jemand tun soll anstatt was jemand nicht tun soll, da dies nicht klärt, was getan werden soll)

Realistisch (umsetzbar)

Terminiert (zeitlich definiert)

sein. Das erhöht schlicht die Chance, dass der transformative Aufarbeitungsprozess gelingt, was ja im Interesse aller sein dürfte. Es geht nicht darum, der tatverantwortlichen Person den roten Teppich auszurollen, es ihr „leichter zu machen“ oder Hilfestellung zu leisten, sondern schlicht darum, diesem nicht im Weg zu stehen.

Zudem würde ich definieren, was das Ziel der Forderungen ist, und ob die geforderten Maßnahmen diesem Ziel dienen. Ziele sind häufig, dass Betroffene der Person nicht begegnen, dass die Person niemand weiteren schädigt und dass sie sich ändert. Dabei ist es wichtig, dass die Betroffenen für sich sprechen und keine (selbsternannten) Fürsprecher*innen ihnen vermeintliche Bedürfnisse und Forderungen überstülpen oder ihre eigene Agenda durchsetzen. Das gehört zur Wiedererlangung von Handlungs- und Definitionsmacht: Betroffene sprechen für sich selbst, sie können selbstverständlich vertreten werden, um sie zu unterstützen, aber die Entscheidungen liegen bei ihnen.

Ein weiterer Fallstrick sind Double Binds im Forderungskatalog oder beim Umgang mit diesem. Wenn ich fordere, dass die Person eine Gruppe für transformative Arbeit besucht oder gründet, aber gleichzeitig alle Menschen, die mit der Person Kontakt haben, anfeinde, stehe ich mir selber im Weg. Natürlich ist mir klar, dass es oft nicht ein und dieselbe Person oder Gruppe ist, die widersprüchliche und sich gegenseitig ausschließende Forderungen stellt. Hier müssen Leute sich gegenseitig korrigieren und gemeinsam Verantwortung übernehmen. Es ist die Aufgabe der Community, sich um die Transformation zu kümmern und diese zu unterstützen. Wir haben alle Mit-Verantwortung, und wir sind alle nicht frei von Täter*innenschaft. Wer lange genug nachdenkt, wird auch in der eigenen Geschichte fündig. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Deswegen ist es scheinheilig, mit dem Finger auf die Tatverantwortlichen zu zeigen und sich nicht um deren Prozess zu scheren. Das widerspricht nicht der Priorität, Betroffene zu unterstützen, beides gehört zusammen.

Es wird Zeit, aus dem Skandalmodus auszusteigen und einen Umgang zu finden, der klar, konsequent, ehrlich und transformativ ist.

1: (Disclaimer: Es versteht sich von selbst, dass es völlig ok ist, zu fordern, was man für die eigene Sicherheit und Entschädigung braucht, und es ist auch keine Frage, dass manches für Tatverantwortliche unangenehm oder anstrengend ist und sein darf. Ich füge das hier hinzu weil die verallgemeinerte schlechte Diskurskultur in der Linken das notwendig macht, leider.)

Das linksradikale Versagen in der Pandemie

Ich halte folgenden Text für eine wichtige Diskussionsgrundlage. Einige werden ihn nicht mögen. Er ist unbequem und stellt vieles in Frage, aber alles Zweifelhafte muss angezweifelt werden, und es gab sehr viel Zweifelhaftes bis jetzt von linker Seite in dieser Pandemie. Er spricht mir an vielen Punkten aus der Seele, daher verlinke ich ihn hier. Allerdings sehe ich als Lösung keine Verengung, wie am Ende des Textes als Konsequenz gezogen wird, sondern vielmehr im Gegenteil eine radikale Verbreiterung des Kreises derjenigen, mit denen man sich organisieren und kämpfen muss.

Wenn ich mich umsehe in meinem normalen Umfeld, dann weiß ich: wir haben so viel Terrain verloren, das wird so schnell nicht wieder gewonnen werden, und viele haben das noch nicht einmal begriffen, und baden sich noch immer in linker Selbstgerechtigkeitsgewissheit. Dabei sind klare Gedanken Mangelware geworden, und es rächt sich, dass linke Bildung und Organisierung in den letzten Jahrzehnten so furchtbar vernachlässigt worden ist, zu Gunsten von Kampagnenpolitik und moralischem Geraune.

https://eutopie.blackblogs.org/2022/02/06/die-implosion-der-radikalen-linken/

»Wir haben immer gerichtet und verurteilt, seit Jesus uns gesagt hat, dieses nicht zu tun. Und ich glaube nicht, dass jemand glaubwürdig nachweisen kann, dass die Welt jetzt besser ist,  als wenn es nie einen Richter oder einen Galgen gegeben hätte.«

George Bernhard Shaw

Neues Buch: Restorative Justice – eine radikale Vision.

Frohe Neuigkeiten: diese Frühjahr wird mein neues Buch erscheinen! Wieder im Schmetterling Verlag, wieder in der Reihe Black Books. Ihr erfahrt darin alles, was ihr schon immer über Restorative Justice wissen wolltet.

Cover ISBN 978-3-89657-047-5

Es ist hier vorbestellbar: https://schmetterling-verlag.de/page-5_isbn-3-89657-047-1.htm

Dann sind wir wohl alle Arschlöcher

Zum Statement der Gruppe um die Ex-Freundin von Henning. (zu lesen hier https://de.indymedia.org/node/160639)

Die Auseinandersetzung um Henning’s Übergriffe auf dem Moni’s Rache Festival geht weiter, und das ist gut, denn wir sind weit vom Ende einer Aufarbeitung entfernt, wenn es so etwas denn geben kann. Umso besser, wenn immer mehr Details und Aspekte betrachtet werden, wie zum Beispiel der Umgang der «Szene» mit Hennings (ehemaliger) Liebesbeziehung. Was ihre Supportgruppe in oben verlinktem Text beschreibt, erfüllt mich mit Entsetzen und Grauen. Sie wurde also in Sippenhaftung genommen und ihrerseits mit Sanktionen belegt. What the actual fuck. Die Gruppe fordert, dass das reflektiert und überdacht wird, dem kann ich mich nur anschließen, und es wäre vielleicht auch nett, wenn man das bei ihr entstandene Leid anerkennt und bedauert, sie um Verzeihung bittet. Es ist verständlich, dass sie mit ihm assoziiert wurde, aber dass dabei vergessen wurde, dass sie ggf. selbst Betroffene ist, zeigt, wie unterkomplex der Umgang mit Gewalt, zumal sexualisierter, in dieser sogenannten Szene ist. Es wird, wie auch die Gruppe feststellt, laut gebrüllt und überstürzt gehandelt, und dann geht’s zurück zur Tagesordnung, bis zum nächsten Fall. Das beste Standing hat, würde ich hinzufügen, wer am lautesten brüllt und am härtesten sanktioniert. (Wie im echten Leben, hallo Talkshows, hallo Kriminalpolitik.)

Besonders interessant an dem Text finde ich den Bezug zu Empathie sowie der Versuch, die gesellschaftliche Bedingtheit sexualisierter Gewalt (-täter*innenschaft) mitzudenken und die Widersprüchlichkeit von menschlichen Persönlichkeiten anzuerkennen. So kommt die Gruppe zu der Erkenntnis, dass potenziell jede*r Täter*in werden kann, es mithin wenig hilfreich (aber sehr bequem) ist, die Gewalt zu externalisieren (othering), einzelne auszusperren und somit nicht an die sozialen Wurzeln der Gewalt zu kommen und auszublenden, dass sie uns alle durchzieht.

Danke, endlich, ja genau!

Und dann bezeichnen sie Henning einfach als Arschloch. Ich habe Fragen. (Natürlich kann ich verstehen, dass seine Taten Abscheu hervorrufen, und niemand muss ihn sympathisch finden, keine Frage)

  • welche Strategien der Resozialisierung kann es geben?
  • Können Menschen sich ändern, und wenn ja, woran erkennt man es und ab wann wird es akzeptiert?
  • wenn wir alle (potenzielle, aber ich würde eigentlich sagen, tatsächliche, weil ich fest davon überzeugt bin, dass jede*r schon einmal Gewalt ausgeübt hat, auf unterschiedliche Art) Täter*innen sind, und Henning ein Arschloch ist, sind wir dann alle Arschlöcher?
  • Wenn es soviele verschiedene Bedürfnisse und Strategien des Umgangs gibt wie es Betroffene gibt, wie soll sich ein*e Beschuldigte*r verhalten?
  • Wenn eine Forderung lautet, Verantwortung zu übernehmen und sich nicht wegzuducken, die Person aber überall ausgeschlossen ist, wie soll sie sich äußern? Auf welchen Wegen kommunizieren?
  • Warum ist es falsch, wenn Henning, von dessen Taten potenziell Hunderte bis Tausende betroffen sind, die zT anonym sind, sich über einen Blog äußert? Inwiefern «nimmt er sich Raum» in einem Raum, der unbegrenzt groß ist, auf eine Art, die niemanden damit konfrontiert, der*die nicht aktiv die Seite besucht und die es allen ermöglicht, ihn zu ignorieren? Wird hier nicht einfach Jargon unbedacht benutzt?
  • Wenn Ausschluss die Form des Umgangs ist und wir alle Täter*innen sind, werden dann die ausgeschlossen, die das «Pech» hatten, erwischt zu werden? Sind dann nicht die, die übrig bleiben, sogar gefährlicher, weil sie ihre Gewalt besser verstecken können?

Kurzum, ich stimme sehr weitgehend mit den Punkten der Supportgruppe überein und teile viele ihrer Bedenken und Kritik. Es wäre super, wenn sie mit ihrer Haltung noch weitergehen und die Konsequenzen des eigenen Denkens, der eigenen Erkenntnisse ziehen.

Vielleicht sind wir alle Arschlöcher. Und jetzt?

PS.: Ich finde es konstruktiver, zu denken, dass wir alle auch gute Seiten haben, und dass dies die Seiten sind, an die wir andocken können, um positive Entwicklung zu begünstigen. Eine andere Chance sehe ich nicht.

Artikel in der Zeit Online

«Aus dem Monster wurde ein Mensch.»

Nach all den Jahren hat die ZEIT meine Geschichte noch einmal gebracht.

Veranstaltungen im Herbst

Ende Oktober 2021 wird es noch einmal eine Reihe von Vorträgen und Workshops zum Thema RESTORATIVE JUSTICE und ABOLITIONISMUS geben (ob Präsenz-, Online- oder Mischformat werden wir dann sehen). Ich aktualisiere hier regelmäßig die Liste der Termine:

Donnerstag 28.10. 19-22h, Vortrag zu Abolitionismus und Restorative Justice bei About:Utopia, Tübingen. Präsenz mit 3G, Veranstaltung wird auch gestreamt.

Samstag 30.10. 2 teiliger Workshop auf dem Kritjur Kongress in Hamburg. Präsenz 2G, der Kongress ist ausgebucht!

Sonntag 31.10.: Workshop bei FemLab, Hamburg. Ausgebucht.

zu Hennings Statement II

Ich sehe, dass die Veröffentlichung von Hennings Versuch der Verantwortungsübernahme einiges an Staub aufwirbelt. Das war zu erwarten, es ist schließlich ein schmerzhafter Prozess der Auseinandersetzung für alle Beteiligten und darüber hinaus.

Ich denke, dass es eine wunderbare Gelegenheit ist, darüber nachzudenken, was wir unter Verantwortungsübernahme verstehen, und was wir als Betroffene, Alliierte oder Gemeinschaftsmitglieder von Tatverantwortlichen brauchen. Denn das Wort „Verantwortungsübernahme“ ist groß – und vor Allem leer. Was heißt das denn für Dich? Und ist es das gleiche wie für mich oder eine dritte, vierte, fünfte Person? Wie geht Verantwortung übernehmen?

Die Nachrichten, die ankommen, sind widersprüchlich – und waren es auch vorher schon, weswegen es für Beschuldigte mitunter sehr schwer ist, sich zu orientieren und zu wissen, was von ihnen erwartet wird. Das ist der Grund, warum sich immer wieder Leute an mich wenden. Sie würden gerne etwas tun, und vor Allem: das Richtige tun, aber sie wissen nicht mehr, was das ist. Sie sollen Verantwortung übernehmen – aber niemand sagt, was das eigentlich ist und was von ihnen konkret erwartet wird.
Ich halte das Argument, dass „das nicht Aufgabe der Betroffenen ist“, für etwas faul: Natürlich ist gar nichts „Aufgabe“ der Betroffenen (außer ihrer eigenen Heilung), andererseits kann niemand erahnen oder erraten, was jemand anderes braucht und ihm*ihr gut tut. Wenn ich die Chancen erhöhen möchte, dass jemand tut, was ich brauche, muss ich es sagen, und dabei gelten die üblichen Regeln aus der Kommunikationstheorie: konkret, positiv formuliert, ausführbar, an eine bestimmte Person gerichtet, zeitlich determiniert.* Das Umfeld kann es übernehmen, das zu kommunizieren (und es hat ja ggf eigene Bedürfnisse, die auch wichtig sind).

Ich orientiere mich an der Erfahrung meiner Kolleg*innen aus Theorie, Forschung und Praxis der Restorative Justice und der Viktimologie. Wir wissen, dass Betroffene sehr unterschiedlich reagieren und unterschiedliche Bedürfnisse haben. Für manche ist eine Aufarbeitung mit der tatverantwortlichen Person heilsam und wichtig, für andere ist Kontaktvermeidung besser, und vieles mehr. Es gibt aber wiederkehrende Themen, an denen ich und andere sich orientieren.

Viele Betroffene von Leidzufügungen…

  • brauchen Schutz vor weiterem Übel.
  • wünschen sich eine Anerkennung der Taten durch die ausübende Person.
  • brauchen die Anerkennung von der Gesellschaft oder Gemeinschaft, dass die Taten Unrecht waren und nicht ein Unglück, dass ihnen widerfahren ist, und dass die Gemeinschaft/Gesellschaft dies nicht akzeptiert und entsprechend sanktioniert. (Sanktion muss nicht Strafe sein!)
  • möchten weitere Opfer verhindern und sind daher daran interessiert, dass die tatverantwortliche Person entweder daran gehindert wird oder selbst zur Einsicht kommt. Sie möchten oft von tatverantwortlichen Personen wissen, was es braucht, damit sie es nicht noch einmal tun und was sie dafür zu tun gedenken.
  • wünschen sich Wiedergutmachung oder Entschädigung, symbolisch oder materiell.
  • wünschen sich eine Entschuldigung durch die tatverantwortliche Person.
  • haben von Tatverantwortlichen ein Bild einer Art Monster in ihrem Kopf und empfinden es als erleichternd, wenn durch eine (direkte oder indirekte) Auseinandersetzung dieses Monster sich in das Bild eines normalen Menschen, der (mglw unnachvollziehbare) Fehler gemacht hat, verwandelt.

In Anlehnung an diese Erkenntnisse haben Restorative Justice Praktiker*innen Verantwortungsübernahmeprozesse für Tatverantwortliche entworfen. Ich nutze in meinen Begleitungen eine Kombination aus verschiedenen Modellen des International Institute for Restorative Practices in den USA. Dabei handelt es sich um sieben Fragen, die Tatverantwortliche bei ihrer Auseinandersetzung bearbeiten:

  1. Was ich getan habe
  2. Wie es dazu kam
  3. Wie andere dabei zu Schaden kamen und darunter leiden
  4. Wie es mir heute mit meinen Handlungen geht
  5. Was ich tue, um Ähnliches künftig zu verhindern
  6. Was ich als (symbolische) Wiedergutmachung anbiete
  7. Wie gesellschaftliche Machtverhältnisse zur Entstehung meiner Taten beigetragen haben

Ich finde diese Schritte sehr sinnvoll und praktikabel. Mit der Zeit können sich die Antworten verändern, weil tiefere Erkenntnisse entstehen, und man kann in der Regel an den Antworten ganz gut ablesen, wo jemand steht. ich denke auch, dass es wichtig ist, zu verstehen, dass Menschen Zeit brauchen für die Konfrontation mit sich selbst, noch dazu, wenn es sich um Seiten handelt, die das eigene positive Selbstbild zerstören. Das ist manchmal für alle Anderen – Umfeld und Betroffene – schwer auszuhalten und sehr frustrierend und kann viel Wut entstehen lassen. Man kann die menschliche Psyche nicht zwingen. Man kann Leute unter Druck setzen, aber das wird ihren Prozess der Auseinandersetzung nicht automatisch beschleunigen. Wie schnell oder langsam jemand mit sich selbst ins Reine kommt, ist individuell sehr unterschiedlich und lässt sich nur schwer kurzfristig von außen beeinflussen. Was es bräuchte, wären kulturelle, soziale und auch institutionelle Bedingungen, die Verantwortungsübernahme ermöglichen und selbstverständlicher machen. Modelle und Vorbilder gibt es bereits, wie etwa die COSA-Kreise in USA/Kanada oder die Healing Lodges kanadischer First Nations. An uns, uns zu inspirieren und eigene Wege zu finden.

  • Man kann nicht wissen, was man tun soll, wenn man nur gesagt bekommt, was man NICHT tun soll. Allgemeinplätze oder abstrakte Begriffe wie „Unterstützung“ sind weit interpretierbar und man kann daher nicht wissen, was jemand darunter versteht: was konkret unterstützt DICH? Wenn nicht klar ist, WER etwas tun soll, wird es ebenso schwierig, wie wenn man nicht weiß, WANN oder WIE LANGE etwas passieren soll. Wenn das unklar ist, muss es zumindest Überprüfungstermine geben. Und nicht zuletzt muss die Forderung im realistischen Rahmen der Möglichkeiten der Person sein. Es nutzt gar nichts, Leute zu überfordern, das führt eher zu einer geringeren Umsetzungsquote.