Kategorie-Archiv: Allgemein

Reflexionen über »die Maske«

Der aller Orts heftig ausgetragene Masken-Zwist irritiert mich. Wie kommt es nur, dass trotz multipler schwerwiegender Krisen vom Klima über Polizeigewalt und das Verreckenlassen im Mittelmeer bis zur Faschisierung der Staatsapparate und Gesellschaften und dem Zerfall Europas ein Stück Stoff so sehr die Gemüter erhitzt? Gibt es nicht selbst in der Pandemie bedenklichere Entwicklungen, wie der Eingriff in die Versammlungsfreiheit oder die Schließung sämtlicher Kulturaktivitäten?

Ein paar Beobachtungen.

Linke tragen ihre Masken tendenziell gewissenhaft und ohne sich daran zu stören. Neben der Einsicht in die Vernünftigkeit der Sache verstehen Aktivist*innen vielleicht auch eher, dass sich echter Widerstand gegen die Staat und Kapital in ganz anderen Akten ausdrückt und das Tragen einer Maske bedroht sie nicht in ihrer widerständigen Identität. Vielmehr gleicht das obligatorische Maskentragen einem VermummungsGEbot und kann in manchen Situationen sogar wünschenswert sein. Zumindest aber hindert die in Hamburg liebevoll »Schnutenpulli« genannte Mund-Nase-Bedeckung niemanden daran, Geflüchtete zu unterstützen, Kohlebagger zu besetzen, leerstehende Häuser zu öffnen oder Nazis zu blockieren. Geht alles auch mit, vielleicht sogar besser.
Im Umkehrschluss fehlt vielleicht Menschen, die sich gar so sehr ausgerechnet am »Schnüsslappen« (Köln) stören, Militanz- und Widerstandserfahrung. Wenn ich meine Unterworfenheit unter das System an der Maskenpflicht festmache, wird das Tragen der Maske zur Last, geradezu unerträglich. Was für die Einen Ausdruck von Solidarität und Vernunft ist, ist für die Anderen das Symbol ihrer Unterdrückung. Diese kognitive Verbindung gilt es zu lösen. Hier ein paar Vorschläge.

The mask is not your enemy.
Erstmal ist es ja zu begrüßen, wenn Menschen gegen ihre Unterdrückung rebellieren. Manchmal täuschen sie sich aber darin, wovon sie unterdrückt sind. Ich bin hundertproztentig bei den Leuten, wenn sie der Regierung misstrauen und per Dekret verordnete Maßnahmen nicht einfach hinnehmen. Kritik und Ungehorsam sind gut und nicht schlecht. Nun gilt es herauszuarbeiten, wo die wirklichen Probleme, die eigentliche unterdrückerischen Maßnahmen, gegen die Widerstand geleistet werden muss, liegen. Die immer noch dem kapitalistisch-neoliberalen Zeitgeist unterworfene Politik bietet dafür eigentlich eine sehr breite Angriffsfläche mit vielen Steilvorlagen, so dass die Maske wie ein lächerliches Detail erscheint. Wurde etwa die desaströse Gesundheitspolitik der letzten Jahrzehnte aufgegeben und Krankenhäuser wieder erweitert bzw geschlossene wieder eröffnet? Wurde massiv Personal eingestellt und dieses endlich angemessen entlohnt? Wurden die Privatisierungen rückgängig gemacht und die Medizin der Phramalobby aus den Händen gerissen? Wurden alternative Heilmethoden anerkannt und gestärkt (in China musste der Staat umfassende Erfolge der Traditionellen Chinesischen Medizin bei der Behandlung von Covid-19 Patient*innen anerkennen. Davon erfährt man hier nichts, wenn man nicht Fachmedien konsultiert)? Wurde einfach ein bedinungsloses Grundeinkommen eingeführt, um allen Menschen eine sichere Existenz in der Krise zu ermöglichen und somit Ängste und damit verbundene psychische Schäden zu minimieren? Die Antwort auf all diese und so viele weitere Fragen ist natürlich »nein«. Hier ist Widerstand nötig. Welche Idee von Gesundheit wird der Maßnahmenpolitik zu Grunde gelegt? Welches Verständnis von Demokratie und von Abwägung der Rechte und Eingriffe? Wurde die monströse Bürokratie, die von den Bedarfen vor Ort oft nichts mehr weiß, sondern von oben nach unten dekretiert, angetastet? Der Punkt muss sein: lasst uns gemeinsam Maske tragend den Kapitalismus stürzen.

Uminterpretation

Viele weiße Zivilisationsbewohner*innen erleben also das Tragen einer Gesichtsbekleidung als unerhöhrten Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Kaum ein Pandemiethema ist so allgegenwärtig wie dieses. Möglicherweise ist dieses auch eine Art Einstiegsdroge in die sogenannte Coronaleugner*innen-Szene. Der Mangel an Verständnis und auch die Agression, die Menschen mit Maskenproblem erleben, treiben sie in die Arme einer rechtsoffenen Szene, weil sie dort Zustimmung bekommen. Mein Vorschlag wäre, erstens das widerständige Gefühl hinter der Maskenverweigerung anzuerkennen, um dann andere Formen der Widerständigkeit und eine andere Interpretation der Maske vorzuschlagen.

  1. Endlich dauervermummt! Gibt es eine bessere Gelegenheit, völlig unverdächtig der Videoüberwachung, teils mit Gesichtserkennung, ein Schnippchen zu schlagen? Es ist doch wunderbar, dass wir endlich wieder unerkannt durch die Städte und Kaufhäuser gehen können! Wem die Maske nicht reicht, der kann sie im Sommer mit Hut und im Winter mit Mütze kombinieren. Und als Sahnehäubchen lässt sich noch eine Sonnenbrille dazu tragen.
  2. Dank Maske eine verschworene Community: gemeinsam nehmen wir solidarisch diese Einschränkung hin, um diejenigen unter uns (und uns selbst) zu schützen, die eine Erkrankung möglicherweise nicht überleben würden. Wir zwinkern uns verschörerisch zu. Es tut gut, gemeinsam für Schwächere einzustehen, und weil das so ist, verlangen wir im Übrigen die Rettung der Geflüchteten im Mittelmeer und die Beherbergung der Obdachlosen sowie die sofortige Freilassung aller Gefangenen, die keine Gefahr für Leib und Leben anderer sind. Yeah!
  3. Drag for everybody, carnival every day. Lernt von den Kölner*innen: es gibt immer einen Grund, Karneval zu feiern – und dazu gehört, sich zu verkleiden. Und zu einer ordentlichen Verkleidung gehört auch eine Maske. Nutzen wir die Gelegenheit des Verkleidungszwangs für Identitäsverwirrungsspiele und karnevaleske Eskapaden. Die ganze Sache ist doch auch so schon viel zu Ernst.
  4. Wer nicht sehen kann soll hören: die Verdeckung des Antlitzes als Aufforderung begreifen, das Zuhören zu kultivieren. Für all jene, die es mit Levinas halten, und das Angesichts des Antlitzes des Gegenüber als eine notwendige Voraussetzung für Gewaltverzicht unter Menschen ansehen, mag der Verweis helfen, dass die so stark auf das Visuelle fixierte Wahrnehmungskultur der Gewalt durch Kategorisierung Vorschub leistet. Othering hängt viel daran, dass ich Kraft des Anblicks Deiner vermeine zu wissen, wer Du bist. Das Zuhören dagegen ist eine Wahrnehmungspraxis, die uns zunehmend verloren geht. Nicht umsonst ist Gehört-werden ein zentrales Anliegen von Menschen in Konflikten, insbesondere Betroffenen von Gewalt. Und »mit dem Herzen zu hören« die Auffoderung an die Teilnehmer*innen in »Healing Circles«. Friedemann Schulz von Thun hat in der Kommunikationstheorie die vier Seiten einer Nachricht herausgearbeitet (was wir den anderen sagen hören und wie wir es interpretieren) und bei Marshall Rosenberg gibt es das Vier-Ohren-Modell für die vier Arten, wie ich das, was jemand sagt, aufnehme. Richtiges Hören ist also eine wichtige, zu lernende und zu übende und allzu vernachlässigte Praxis. Unsere derzeitige allgemeine Verschleierung könnten wir als Aufforderung zum Zuhören betrachten äh nein verstehen. Das französische gibt einen Hinweis auf die Wichtigkeit des Hörens für das menschliche Miteinander: das Wort „Entendre“ bedeutet sowohl „hören“ als auch „sich verstehen“. Wer gut miteinander auskommt, der hört sich gut: „Ils s’entendent bien“.

Die Geschichte von Harry

Eine Parabel über die Vielschichtigkeit von Menschen

Gestern habe ich Harry wieder getroffen, wir hatten uns sicher drei Jahre nicht gesehen. Wir sind uns am See über den Weg gelaufen, er wie immer braun gebrannt, gut gelaunt und zu einem Schwätzchen aufgelegt. Sie würden jetzt Müll sammeln, am See, und hätten einen Verein gegründet, der sich um den See kümmern will. Ich war gerührt.
Den See? Es geht um einen alten Baggersee, in der Nähe von Köln. Seit Generationen kommen die Menschen hierher, zum Baden, Tauchen, Schwimmen, Hunde ausführen, Grillen, Feiern, Chillen und Angeln. Der See ist in Privatbesitz, und jedes Jahr wird ein kleines Ritual begangen. Die Eigentümer*innengemeinschaft stellt einen Zaun auf und Schilder, dass der Zutritt verboten ist. Keinen halben Tag später ist der Zaun wieder niedergetrampelt und die Schilder abmontiert. Zeitweise haben sie es mit Securities versucht, aber bei hunderten, zum Teil nackter Badegäste wurde das nur skurril.
Der See liegt im Einzugsgebiet zweier Stadtteile Kölns, einem eher wohlhabenden und einem eher armen Viertel. Ich habe mal ausgerechnet, dass im näheren Umkreis ca 20 000 Menschen wohnen. Und es mangelt in Köln an Naherholungsgebieten, besonders solchen mit Gewässer und kostenlosem Zugang. Vor Jahren hatte ich versucht, eine Kampagne ins Leben zu rufen, die in Anlehnung an altes Gewohnheitsrecht und den nordischen Brauch, dass Gewässer allen zugänglich sein müssen, für eine freie Nutzung des Sees kämpft, denn mittlerweile planten die Eigentümer*innen eine kommerzielle Nutzung inklusive Wasserskianlage. Der Kampf um den freien Zugang zur Natur ist Teil der alten Arbeiterbewegung, Vereine wie die »Naturfreunde« sind daraus hervorgegangen – ihr Gruß »Berg frei!« erinnert an diese Forderung.
Leider gelang es mir damals nicht, genügend Nutzer*innen des Sees für ein Engagement zu gewinnen. Bei einem angesetzten Müllsammeltermin als erster gemeinsamer Kennenlernaktion stand ich alleine beim verabredeten Treffpunkt. Ich gab es auf und zog später auch weg.

Harry ist gelernter Schlosser und glücklicher Arbeitsloser. Seit seiner frühen Jugend ist er arbeiten gegangen, und seit er 40 ist, hat er die Schnauze voll. Er findet nicht, dass er der Gesellschaft noch etwas Lohnarbeitsförmiges schuldig ist und verbringt seine freie Zeit im Sommer jeden Tag am See. Früher kam er auch regelmäßig ins Naturfreundehaus, wo wir eine Art Stadtteilzentrum eingerichtet hatten. Mittwochs war unser »Sozialtag«: Es gab eine Lebensmittelausgabe, eine Arbeitslosenberatung und Kaffee für alle. Meistens kochte jemand oder es gab belegte Brötchen gegen Spende, und im Sommer wurde auf der Terrasse und im Garten abgehangen. Harry war ein Mittwochsgast. Er half, wenn es wo mit anzupacken galt, aber ansonsten genoss er es einfach, wie manche andere auch, dass »etwas los« war und man mit Leuten schwatzen konnte. Bei der Kampagne für den See hat er damals nicht mitgemacht, auch wenn er es eine gute Idee fand.

Wie wir so da standen und er mir von der neuen Initiative erzählte, ging mir das Herz auf. Sollte etwa doch etwas aus meinen damaligen Bemühungen gekeimt sein? Sogar den Spruch »Rather See frei!« hatten sie als Slogan übernommen. Ist da etwa eine Saat doch noch aufgegangen? Es war schön zu sehen, dass da nun sogenannte »normale Leute«, keine Berufsaktivist*innen, Verantwortung übernommen hatten und sich sichtbar aktiv kümmerten. Sie haben selbstgemachte Schilder aufgestellt, die zu einem respektvollen Umgang mahnen, verfolgten die Bauplanungsverfahren für die Wasserskianlage, versuchten, zu intervenieren, und wehrten sich zusammen mit den vielen anonymen Nutzer*innen gegen immer wieder aufgestellte Zäune. Ich bin gespannt, was passieren wird, wenn mit Beginn der Bauarbeiten die »heiße Phase« beginnt.

Während ich mich so darüber freute, dass der Kampf für den Erhalt der freien Nutzung des Sees weitergeht und von Leuten übernommen wurde, von denen ich es zunächst nicht vermutet hätte, erzählt Harry weiter. Die Mächtigen würden sich ja immer mehr herausnehmen und man müsse Widerstand leisten, ob ich gesehen hätte, was da in Berlin abgegangen sei? Berlin? Achja, oh weh, die Coronaleugner-Demo. Ob ich denn »daran« glauben würde? Ich sei krank gewesen, entgegne ich, nun etwas entsetzt über die Wendung des Gesprächs, und würde es keinem wünschen. Er glaube das alles nicht, so wie das laufe, sei das doch durchsichtig, dass es dazu diene, die Gesellschaft noch stärker zu kontrollieren. Uff!
Ich versuche, Sachen auseinander zu dividieren: es sei etwas dran, dass man der Regierung nicht vertrauen dürfe, dass sie die Gelegenheit für eine Ausweitung von Kontrolle nutzen würden – was ja aber nicht heißen würde, dass es kein gefährliches Virus gäbe, sage ich. Wir werden uns nicht einig. Weißt Du, Harry, entgegne ich ein letztes Mal: ob es »Corona« nun gibt oder nicht: durch den Klimawandel, die Zerstörung von Lebensräumen und das Auftauen des Permafrost werden wir noch mit vielen, vermutlich viel gefährlicheren Viren zu tun haben. Es ist eine Realität, dass es sie gibt und dass wir nicht vorbereitet sind. Ja, sagt er, und wer ist Schuld an diesem Klimawandel? Und analysiert mir haarklein am Beispiel von Autoersatzteilen, wie alles auf Ressourcenverschwendung, Wegwerfen und sinnlosen Konsum ausgerichet ist, nur um immer mehr Profite zu machen. Ja, da sind wir uns wieder einig.

Nein, ich werde Harry nicht einfach als Coronaleugner abstempeln. Harry ist kein Intelektueller, aber er hat in vielen Dingen Recht und tut das Richtige. Bei Corona täuscht er sich, aber darauf kann man ihn nicht reduzieren. Diese Anerkennung der Vielschichtigkeit von Menschen ist Basis jedes strafabolitionistischen Denkens und Handelns. Es ist ein tägliches Üben und Sich-daran-Erinnern, dass niemand auf eine Handlung oder einen Teil seiner Persönlichkeit reduziert werden kann, und dass das eine Grundvoraussetzung dafür ist, um Veränderung möglich zu machen und Dynamik in die Verhältnisse zu bekommen.
Dass Linken nichts besseres einfällt, als mit dem Finger auf die Leute zu zeigen, anstatt sich in Kämpfe einzumischen und sie emanzipatorisch zu wenden (wie es die Linke in Frankreich bei den Gilets Jaunes zB erfolgreich getan hat), ist ein Grund ihrer Schwäche. Es ist ja so viel einfacher, die anderen für bekloppt zu erklären und sich in seiner eigenen Rechtschaffenheitsgewissheit zu sulen. Wenn schon die Idee, hinzugehen und die Nazis rauszuhauen und mit den Leuten über die Ambivalenzen und Differenzen zu streiten, als illusorisch und sinnlos empfunden wird, sind wir hier noch weit von einem Aufstand entfernt. Es ist aus einer französischen Warte merkwürdig zu sehen, dass deutsche Linke irgendwie auf einen von vornherein korrekten Protest hoffen, in den sie sich dann einmischen können, anstatt zu begreifen, dass es immer und notwendigerweise verschwurbelt sein wird und dass es auf UNS ankommt, das zu ändern. Da sieht man, wie weit sich die linke Blase von jedem Kontakt mit Nicht-eingeweihten entfernt hat. Viele, viele Feigezingerlängen weit.

Beitrag in der Jungle World

Mein Beitrag zur Disko über den Umgang mit (sexualisierten) Übergriffen. Diese Diskussionsreihe in der Jungle World ist wirklich lesenswert. Es wäre sehr zu wünschen, dass sich das jetzt auf die Praxis auswirkt, wo leider immer noch inquisitorische Methoden vorherrschen, was mich immer wieder wütend und verzweifelt macht

https://jungle.world/artikel/2020/29/eine-bessere-konfliktkultur-aufbauen

Disclaimer: es heißt nicht „restaurativ“ sondern restorativ und schon gar nicht „restaurative Gerechtigkeit“, das ist mir hineinlektoriert worden. Für das Wording zu dem Thema halte ich die deutschsprachige Fachzeitung „TOA-Magazin“ maßgebend. Leider konnte ich das wegen Urlaub nicht mehr korrigieren.

Filmtipp zu Restorative Justice – Aktuell in der Arte Mediathek

Mediation – Chance für Opfer und Täter

Im Dialog will man Tätern und Opfern die Gelegenheit geben, ihre Geschichte zu erzählen und so das Geschehene gemeinsam zu verarbeiten. Mit Hilfe von Mediatoren will man Verständnis schaffen – für beide Seiten. Doch lassen sich zwischenmenschliche Schäden überhaupt wiedergutmachen? Kann ein Opfer-Täter-Dialog wirklich befreiend sein? Was, wenn die Gespräche nicht konstruktiv sind, keine heilende Wirkung haben? Viele juristische Instanzen zögern, derartige Verfahren zuzulassen. In Belgien wird Jugendmediation bereits seit Jahren mit Erfolg angewandt; in der Schweiz hingegen stecken derartige Methoden noch in den Kinderschuhen. François Kohler dokumentiert die schwierige Umsetzung eines Mediations-Pilotprojekts in Gefängnissen in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz und begleitet sowohl Täter als auch Opfer.

İdil Baydar: Autorität ist nicht, eine Waffe zu tragen

https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-07/idil-baydar-schauspielerin-kabarettistin-polizeigewalt-nsu-shishabars-brennpunkte

Zu diesem, im Großen sehr guten Interview vmit Idil Baydar möchte ich mit Geoffroy de Lagasnerie erwidern: Es ist der Zweck der polizeilichen Ordnung („Ordre policier“) migrantische, schwarze Körper zu eliminieren.
Das hört sich radikal an, hat aber etwas mit der Geschichte der Entstehung der Polizei, wie wir sie heute kennen, zu tun. Die längste Zeit der Geschichte gab es so etwas wie Polizei überhaupt nicht, die Menschen haben trotzdem nicht schlechter gelebt.
Der Polizeiapparat hat Wurzeln im Überwachungsapparat der Sklavenbesitzer*innen auf den Plantagen. Er hat Wurzeln in der Inquistion und der Vernichtung der Reformchrist*innen, in der Vertreibung und Enteingung der Landbevölkerung zum Zweck ihrer Proletarisierung. Die Polizei hat zur Aufgabe, die Besitzenden und die Privilegierten zu schützen, ihre Intereseen durchzusetzen.
Da helfen keine Reförmchen, interkulturelle Trainings etc. Die Polizei als Struktur in dieser Form muss abgewickelt werden. There is no alternative.

 

Die Jungle World zu „Tranformative Justice“ und sexualisierter Gewalt

In der linken Wochenzeitung „Jungle World“ wird in der Rubrik „Disko“ über die Frage des Umgangs in der Linken mit sexualisierter Gewalt diskutiert. Dabei geht es auch um Transformative Justice / Community Accounatbility.

Die Diskussion wird über mehrere Wochen fortgesetzt und ich schreibe auch einen Beitrag. Stay tuned!

Black Penal Abolitionists

Straf- und besonders Gefängnisabolitionismus ist nicht nur aus der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei entstanden, sondern ist auch heute, besonders in den USA, eine von der Schwarzen Community getragene Bewegung.

Wenn ihr schwarze Abolitionist*innen lesen wollt, gibt es außer der Pflichtlektüre von ANGELA DAVIS zum Beispiel folgende weiter Autor*innen:

Vanessa Eileen Thompson und Jeannette Ehrmann haben beide in meinem Buch einen Beitrag geschrieben („Abolitionistische Demokratie“)
Michelle Alexander (Buch „The new Jim Crow“)
Kali Nicole Gross (“African American Women, Mass Incarceration, and the Politics of Protection“)

… und es gibt noch viele mehr, zum Beispiel die Initiative „INCITE! Women of Color against violence“ incite-national.org

 

WDR 5: Es geht auch ohne Knast

Guter Beitrag zur derzeit wieder heißer diskutierten Frage, ob man die Knäste nicht endlich überwinden könnte. Inklusive Wortbeiträgen von mir.

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-neugier-genuegt-das-feature/audio-es-geht-auch-ohne-knast-100.html

Reihe: Neugier genügt. Autor: Miltiadis Oulios

Und noch was zum Hören:

Kopfarbeit, Handarbeit, Muschiarbeit?

Von Sexarbeit, Prohibition und sexueller Befreiung.

Am Rande einer Demo des Strassburger Noborder-Camps, es muss im Jahr 2002 gewesen sein, fragte mich ein Passant, was ich denn »davon« halten würde und zeigte auf eine Prostituierte, die in einer Haltebucht am Strassenrand unweit unserer Demonstration stand.
Das sei, erklärte ich ihm in miserablen Resten meines Schulfranzösisch, Ausdruck des Patriarchats und somit ein gesellschaftliches Problem.

Damals war ich eine frischgebackene anarchistische Aktivistin, die den Feminismus entdeckte, und ganz klar für die Abschaffung von Prostitution. Allerdings war damals schon meine Position etwas differenzierter als die vieler heutiger Fans des sogenannten»«Schwedischen Modells« und anderer Ideen zum Verbot der Prostitution: als gute Anarchistin war ich natürlich gegen Verbote und für die Abschaffung von Herrschaftsverhältnissen, also auch dem Patriarchat. Das war nicht den Individuen anzulasten, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe.

Nur dass mich hier niemand falsch versteht: ich bin selbstredend immer noch für die Abschaffung sämtlicher Herrschaftsverhältnisse und also auch des Patriarchats, mein Verhältnis zur sogenannten Prostitution hat sich jedoch verändert. Das hat unter Anderem damit zu tun, dass sich mein Bild dessen, was das eigentlich ist, durch  Kontakt und Information im Laufe der Zeit geändert hat:

Von Prohibitionismus zu Befreiung
Die anarchafeministische Aktivistin hörte recht bald davon, dass es da in den USA eine Bewegung von Huren gäbe, die sich selbst Sexarbeiter*innen nannten und sich gegen die Dämonisierung und Kriminalisierung ihrer Arbeit wehrten. Ich hielt das für einen typischen Ausdruck neoliberaler Subjekte, die ihre eigene Ausbeutung auch noch feiern und tat es als komischen Ami-kram ab. Ein kleiner Keim des Zweifels war jedoch gesät: wenn die »Betroffenen« selber für die Anerkennung ihrer Arbeit als Beruf kämpfen und sich nicht als ausgebeutet empfinden – vielleicht konnte man das nicht so einfach ignorieren? Musste man nicht die Selbstorganisierung und Selbstermächtigung Unterdrückter und Ausgebeuteter unterstützen?

Jahre später fiel mir auf dem Ladyfest in Köln das wunderbare Buch »SexArbeit« in die Hände, eigentlich Katalog einer Ausstellung des Hamburger »Museums für Arbeit« zum Thema Prostitution. Dieser dicke und nur noch antiquarisch erhältliche »Schinken« versammelt Geschichten und Berichte verschiedener Akteur*innen in diesem Bereich und bietet einen weder romantisierenden noch dämonisierenden Einblick in eine Arbeit, die manche eben betreiben. Nur dass sie unter besonderen Vorzeichen stattfindet: der gesellschaftlichen Tabuisierung und Stimatisierung und der gesetzlichen Regulierung bis hin zur Kriminalisierung .

Ich las den Katalog und kaufte mir daraufhin sämtliche Bücher, derer ich habhaft werden konnte, darunter den Escort Coach »Warum Männer 2000 Euro für eine Nacht zahlen« von Vanessa Eden und »Sexarbeit – eine Welt für sich« aus der Edition Freitag. Eine australische Couchsurferin, die in unserer WG übernachtete, empfahl mir den  Dokumentarfilm »Scarlet Road« (ich empfehle ihn hiermit weiter). Sie selbst hatte jahrelang in Melbourne in verschiedenen Bordellen gearbeitet, darunter einem selbstverwalteten, und war kurz zuvor in Berlin auf dem Straßenstrich vergewaltigt worden. Sie konnte glücklicherweise gut für sich sorgen und wurde von ihrem Umfeld aufgefangen, so dass sie halbwegs unbeschädigt blieb. Trotz dieser Gewalterfahruung sprach sie nach wie vor mit Begeisterung von ihrem Beruf und vor allem davon, was sie alles gelernt und wie positiv er sie verändert hätte, zum Beispiel in Bezug auf Fatphobia, dem Ekel von korpulenten Menschen, den sie nun abgelegt hatte. Was mich wiederum an eine neuseeländische Freundin erinnerte, die sich ihre Umsiedlung nach Europa in neuseeländischen Puffs verdient hat und auch hier weiter als Sexworkerin tätig war (oder ist? wir haben keinen Kontakt mehr). Ich hatte sie in Neuseeland als kleine, hagere Frau kennengelernt, die nicht viel sprach und schüchtern und zerbrechlich wirkte. Als wir uns in Europa wiedersahen, war sie kaum wiederzuerkennen. Die Sexarbeit hatte ihr eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein verschafft. Aus ihrem Tagebuch hat sie ein kleines Zine gefertigt, sowie einen Artikel für die Berliner Zeitschrift Sul Serio verfasst. Darin beschreibt sie, wie gut es ihr getan hat, ihre Grenzen zu erweitern, mit Dominanz zu spielen und was für unterschiedliche Menschen sie als Kunden kennengelernt hat. Es gibt Sachen, die sie an ihrem Beruf mag (z.B. einem Kunden, der Polizist ist, ins Gesicht pinkeln) und andere, die sie nerven (z.B. nett zu Kapitalisten sein müssen und lieblose Bordelle).

Sollte Sexarbeit also tatsächlich sein wie jede andere Arbeit?
Aus meiner langjährigen Betrachtung von außen – denn ausgeübt habe ich sie selber nie, auch wenn ich manches Mal darüber nachdachte, wenn ich meine finanzielle Prekarität satt hatte – würde ich sagen: jein.

Einerseits ist es eine Art körperlicher Arbeit, wie beispielsweise auch Bauarbeit. Physisch anstrengend, deswegen machen es nicht viele bis zur Rente, es gibt in der Branche unterschiedliche Arbeitsbedingungen inklusive mafiöser Strukturen, Menschenhandel und Sklavenarbeit (die hier wie da verboten sind und gegen die Menschenrechte verstoßen, egal welches Metier), während anderswo gut bezahlt wird und man recht schnell viel Geld verdienen kann. Es wird überall auf der Welt gebraucht und es gibt reisende Handwerker*innen. Die, die sich selbstständig machen und spezialisieren, können daraus einen interessanten Job machen, der sogar erfüllend ist.

Andererseits hat sexueller Körperkontakt noch andere Dimensionen, die auf dem Bau oder auch in der Fabrik, im Büro oder in der Gastronomie nicht unbedingt vorkommen. Das ist die Nähe zwischen den Beteiligten, die Intensität der Emotionen, die dabei erlebt werden (positiv wie negativ), die Intimität ansonsten geheimgehaltener Gelüste und Probleme etc. Sexualität ist eine sehr machtvolle Energie, die daher genauso stark heilend (genutzt im Tantra z.B.) wie stark zerstörend (Trauma durch Übergriffe) wirken kann. Das heißt, dass selbstbestimmte Sexarbeit, die bewusst mit dieser Energie umgeht, auf die Arbeitenden und auf die Kund*innen eine heilende Wirkung haben kann. Und es heißt, dass unfreiwillig oder unter (ökonomischen) Zwängen oder Notwendigkeiten ausgeübte Sexarbeit für die Arbeitenden extrem zerstörerisch sein kann, und zwar um die Intensität dieser speziellen Energie zerstörerischer als Sklavenarbeit auf dem Bau oder ein frustrierender Kellner*innenjob.

Ist das nicht alles nur konstruiert?
Man könnte argumentieren, dass der Unterschied zwischen Hand und Muschi ein konstruierter ist. Dass es mithin unsere Gesellschaft ist, die den einen Körperbereich mit einem speziellen Tabu und einer besonderen Bedeutung auflädt, während der andere als banal und alltäglich gilt. Dass also Muschiarbeit eben Arbeit ist und Punkt, man müsse nur diese besondere Bedeutung dekonstruieren und sich bewusst machen, dann wäre ein öder oder anstrengender Hurenjob auch nicht öder oder anstrengender als Teller waschen oder Beton gießen. Das ist bis zu einem bestimmten Punkt insofern richtig, als unsere Sexualorgane in allen Gesellschaften mit verschiedenen, sehr starken Bedeutungen verknüpft werden, die bis zum Tabu gehen, und dass es Gesellschaften gibt, denen Körperteile als sexuell gelten, die andere überhaupt nicht als solche betrachten (diese ganze Verhüllungsdebatte). Und das zeigt sich an der vehementen Aufklärungs- und Reflexionsresistenz der Verfechter*innen der Prohibition, denen die gleichen Misstände in anderen Branchen keine Erwähnung wert sind. Es ist ihnen schlicht unvorstellbar, dass Muschiarbeit selbstbestimmt sein kann – was mehr überihre eigenen Probleme sagt als über die Realität eines Gewerbes.

Doch die Parallele endet bei dem, was ich oben Intensität und Wirkung der sexuellen Energie genannt habe. Ficken ist eben nicht mörteln oder Teller waschen. Ein Orgasmus ist etwas anderes als eine gelungene Dachkonstruktion.

Hier liegt eine enorme Chance von legalisierter und ent-stigmatisierter Sexarbeit. Während es Sklaverei, Menschenhandel, Zwangsarbeit und Vergewaltigung überall zu bekämpfen gilt (und sie ohne spezielle Gesetze überall gleich verboten sind), könnte freie, selbstbestimmte Sexarbeit zu sexueller Heilung beitragen, indem sie unser Verhältnis zu unseren Körpern und unserer Sexualität entkrampft; indem sie in die Sexualität einführt, aufklärt und bildet (Stichwort Vielfalt, Gesundheit, Praktiken), Menschen dabei begleitet, ihre Sexualität zu erforschen (Stichwort Tantra u.a.) und Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder in besonderen Lebenslagen überhaupt die Auslebung ihrer Sexualität ermöglicht (Stichwort Sexualbegleitung für Menschen mit Behinderungen, in Altersheimen, aber auch BDSM etc). Je mehr wir davon ermöglichen, desto weniger muss es von der zerstörerischen Variante geben, und je offener wir damit umgehen, desto leichter lässt sich diese bekämpfen.

Wenn wir aber mit dem »schwedischen« oder einem anderen prohibitonistischen Modell die Sexarbeit wieder in einen illegalisierten Raum sperren, gefährden wir nicht nur die Unversehrtheit der Sexarbeitenden (die es weiterhin geben wird, alles andere ist pures Wunschdenken) durch das dann nötige Versteckspiel und die Aufrechterhaltung des Stimgas (Stigma kills!), sondern verhindern wir auch unsere eigene sexuelle Enwicklung als Gesellschaft und berauben uns letztlich sexueller Heilungsmöglichkeiten – dabei haben wir diese bitter nötig!

Und zur Frage der Abschaffung des Patriarchats: wie sich Sexualität entwickelt, wenn es keine Genderherrschaft und keine Martkgesellschaft gibt, lässt sich hier und heute nicht sagen. Wird es weiter Menschen geben, deren besondere Aufgabe die sexuelle Unterstützung anderer ist, einfach weil sie das gerne machen und gut können? Etwa so wie es auch Heiler*innen gibt oder Mediator*innen? Vielleicht. Keine Ahnung wie sich überhaupt das ganze Konzept »Beruf« dann entwickelt. Möglicherweise de-institutionalisieren sich Dinge und alle werden besser darin, sich gegenseitig zu begleiten. Das lässt sich von hier und heute aus nicht bestimmen. Also ist die Frage, was hier und heute mehr Befreiung und mehr Entfaltung birgt. Und das sind nicht Tabus, Verbote und Strafen, sondern (sexuell) empowerte Menschen und eine offene Kommunikations- und Konfliktkultur – beim Sex und in anderen Lebenslagen.

Beitrag zu „Zusammen arbeiten, zusammen wachsen, zusammen leben.“

Auf Einladung meiner lieben Freundin Hanna Parnow habe ich für das von ihr (gemeinsam mit Petra Schmitd) herausgegebene Buch »Zusammen arbeiten, zusammen wachsen, zusammen leben« einen Beitrag verfasst.

Es geht um neue Organisations- und Arbeitsformen in der Wirtschaft und ich habe dafür den »Premium«-Gründer Uwe Lübbermann über deren Konzept interviewt: »Auch die Konsument*innen bestimmen mit.« Seite 23-33. Seit Ende 2019 im Handel erhältlich.