Bericht aus dem Land der Gelben Westen

Seit 3 Jahren verbringe ich einen großen Teil meiner Lebenszeit in Südfrankreich bei meinem Freund. Ich habe die Wahl mitverfolgt und die erste Zeit der Regentschaft von Marcon, die Aufstände und Blockaden diesen Frühling und vor allem, diese offensichtliche und tiefsitzende Verachtung der Regierungskaste (alles Absolvent*innen der ENA, der Elite-Verwaltungsschule) sowie ihre völlige Entkoppelung von der Realität der Leute und die manchmal geradezu irritierende Kurzsichtigkeit und Stumpfsinnigkeit ihrer Politik.

Ein Beispiel: Der Streik der Eisenbahner*innen diesen Frühling begann anlässlich einer angekündigten Reform und Vollprivatisierung der staatlichen Bahn SNCF. Nicht nur sollten die Eisenbahner*innen einen Teil ihrer erkämpften Lohnvorteile verlieren, nein: 1/3 aller lokalen Züge wird eingestellt. Jetzt schon sind die Regionalverbindungen teuer, selten und schlecht organisiert. Das Argument von Macron war: die Leute haben doch eh alle ein Auto. (Ja, seit man ihnen die örtlichen Schulen, Postämter, Krankenstationen etc einstampft und riesige Shoppingcentren vor den Toren der Städte und Dörfer entstehen, während die Dorfzentren sich leeren, MÜSSEN ja alle ein Auto haben). Nun kommt er uns mit: Autofahren ist doof für das Klima, deswegen machen wir es richtig teuer. Eine erste Reaktion auf die Proteste war dann, anzubieten, die Fahrschulen wieder günstiger zu machen. Ja was denn nun? Der Mangel an Logik kann einen in den Wahnsinn treiben!

Oder: Beginn des Jahres erklärt er den Rentner*innen, sie müssten eine Extra-streuer bezahlen, damit man den jungen Arbeitslosen und Berufsanfänger*innen helfen könne. Kein Jahr später wird eine neue Lohnsteuer eingeführt, unter anderem mit dem Argument, die Arbeitenden müssten den Rentner*innen helfen. Hä?

Das sind nur zwei Beispiele. So geht es in einem fort. Die Benzinsteuererhöhung sollte unter Anderem durch Kompensationszahlungen für Arme abgefedert werden, nachdem diese anfingen zu protestieren. Es ist zum Haareraufen blöde.

Macron ist ein selbstherrliches Arschloch, der noch nicht mal die Prozentrechnung richtig versteht (obwohl Banker), sonst hätte er neulich nicht gefragt, warum ihn denn alle gewählt hätten, wenn sie jetzt so gegen ihn sind. Mal abgesehen davon, dass er keine Wahlversprechen eingehalten hat und seit Tag Null alle übers Kreuz legt, die Leute also auch einen Grund haben, ihre Meinung zu ändern, haben ihn mitnichten alle gewählt. Die Wahlbeteiligung war die niedrigste der fünften Republik, und aus gutem Grund.
Im ersten Durchgang hatten alle Kandidat*innen um die 20%, die Unterschiede waren im einstelligen Bereich, es war sehr knapp. Im zweiten Durchlauf haben die meisten ihn gewählt, um Le Pen zu verhindern. Damals ging ein Satz durch die sozialen Medien: Late Capitalism – wenn man die Wahl hat zwischen einer Faschistin und einem Investmentbanker.
Seine Politik unterstützen vlt 20% der Wähler*innen. Bei einer Wahlbeteiligung von kaum mehr als 50% und der Menge an Einwohner*innen ohne Wahlberechtigung (u.a. alle die im Gefängnis sind oder waren) macht das höchstens 10% der Bevölkerung, die seinen Müll gut fanden. Das passt zu den Umfragen, wonach 85% der Französ*innen hinter den «Gilets Jaunes» stehen.

Und ich kann sie verstehen. Man kann dieser Regierung nur noch Hass entgegenbringen. Wenn ihr wüsstet! Gesetzte werden seit Tag 1 im Schnellverfahren durchgepeitscht, keine demokratische Debatte mehr möglich. Der Ausnahmezustand wurde in den Normalzustand überführt. Es hagelt Verbote, Steuern und antisoziale Reformen täglich. Und dann sowas: Angebot der Regierung an die aufständischen Gelbwesten: Kondome „made in France“ sollen kostenfrei werden, wenn man sich ein Rezept beim Arzt holt. Ein Arztbesuch „kostet“ irgendwas um die 10€ Praxisgebühr, eine Packung Kondome ist erheblich günstiger, auch die „made in France“. Wie garstig: Die Armen revoltieren, und die Antwort der Regierung: Hört auf, Euch zu vermehren, wir helfen Euch dabei (aber nur, wenn das die nationale Wirtschaft ankurbelt). Bösartig.

Man kann den Leuten viel nehmen, aber wenn es an  die Lebensgrundlagen UND die Würde geht, platzt ihnen irgendwann der Kragen.

Ich habe wirklich nicht verstanden, wieso die deutsche Presse diesen hohlköpfigen Parvenu Macron so hochgejubelt hat. Man möchte meinen, dass FrankreichkorrespondentInnen des Französischen mächtig sind. Aber wieso sollten Journalist*innen heutzutage intelligenter sein als die Regierung. «Bildung für Reiche!» hat Martin Obliers, Schriftsteller in Köln, mal gefordert. In der Tat, man hat den Eindruck von Vollpfosten regiert zu werden.

Und die Linke?

Ich möchte einen offenen Brief einer fanzösischen Aktivistin mit Euch teilen, da ich finde, dass er sehr schön das Dilemma darstellt, auch wenn sich mittlerweile was bewegt, seit auch die Schüler*innen und Student*innen im Streik sind. Am Samstag haben die Aktivist*innen der  Kampagne «Justice pour Adama» (antirassistische Kampagne gegen Polizeigewalt) zur Beteiliung an den Demos der Gilets Jaunes aufgerufen und gemeinsam demonstriert. Gestern hat die «Conferation Paysanne» mitgeteilt, dass sie sich ab sofort beteiligen wird. Die CGT ruft die LKW-Fahrer*innen zu Blockaden auf. Vielleicht gibt es jetzt endlich diese «Confluence des luttes», das Zusammenkommen der Kämpfe, auf das diesen Frühling alle gewartet haben und das nicht passierte, was zur Niederlage fast aller Kämpfe führte.

Lassen wir Alexia sprechen: (Original auf Facebook Alexia Olagnon)

An meine ein bisschen, sehr und leidenschaftlich revolutionären Freund*innen, die von einem großen Volksaufstand träumen, mit allen zusammen, den Arbeiter*innen, den Bäuer*innen, de Arbeitslosen, den Entrechteten, allen. Dem Volk halt. Ihr wartet schon eine ganze Weile auf dieses „Volk“, eine ganze Weile, in der man sich über dieses Volk aufregt, weil es sich nicht bewegen will, nicht kämpft, den Kopf senkt.

Aber welches Volk überhaupt? Wer?
Heute sind die Leute da. Bei mir auf dem Land halten sie die Blockaden seit 13 Tagen! Selbstverwaltet machen sie essen, verpflegen die „Truppen“, organisieren Aktionen und kommen wieder, wenn sie von den Bullen vertrieben wurden. Die anderen sind solidarisch, man hört und sieht es überall: zwei von drei Autos haben eine Warnweste hinter der Windschutzscheibe, als Zeichen der Solidarität. Sie sind zum Elyséepalast gegangen, zu Tausenden, und haben sich ordentlich einmachen lassen. Sie sprechen jetzt davon, die Häfen zu blockieren und weiterzukämpfen. Das ist doch der Hammer, oder? Es gibt sogar antirassistische Komitees unter ihnen, um eine rechte Übernahme der Bewegung zu verhindern.

Aber Du Genoss*in, Du scheinst mir verwirrt zu sein, ja enttäuscht sogar. Und das, wo ich doch bei den Blockaden viele verschiedene Leute sehen konnte: Arbeiter*innen, Arbeitslose, Rentner*innen, Gewerbetreibende, Selbstständige. Ich habe auch viele Frauen gesehen! (Bravo Mädels! Das klappt alles auch weil ihr da seid!) Aber Dich, Dich habe ich nicht gesehen.
Es ist, also ob dieses Volk, von dem Du immer so gerne „theoretisch“ redest nicht zu dem Bild passt, dass Du Dir von ihm gemacht hast. Du, der sich darin gefällt, am Rande zu sein, tust Dir schwer damit, Dir eine gelbe Weste anzuziehen. Du willst lieber in der Reserve bleiben als Dich ins Getümmel stürzen und Dir die Hände schmutzig zu machen.

Mit den Genoss*innen auf dem ersten Mai gegrillte Sardinen essen, das passt Dir, aber am Kreisverkehr um die Ecke Würstchen vom Grill essen, ist wohl zuviel verlangt. Das Volk scheint Dir Angst zu machen.

Ich versteh Dich. Unter uns sind wir unbehelligt, da können wir uns aneinander wärmen, während es da draußen kalt ist. Und komm, gib zu, Du bist auch ein bisschen sauer, weil sie nicht auf Dich gewartet haben. Und verwirrt bist du, weil Du lieber einen romantischeren Grund für den Aufstand gehabt hättest als ausgerechnet den Benzinpreis.
Und bist Du empört, weil Dir klar wird, dass das geliebte Volk teilweise düsteren Ideen anhängt?

Weißt Du, die Leute haben den Eindruck, dass Du auf sie herabschaust, und ich sag Dir was: da ist was dran. Die Leute auf den Barrikaden fragen sich schon, warum keine Künstler*innen, keine Gewerkschafter*innen, niemand sonst sie unterstützt. Nicht, um die Bewegung zu übernehmen, sondern um sie zu unterstützen!

Genoss*in, gegen Rechtsextremismus zu kämpfen, das ist nicht nur ab und zu Faschos klatschen. Du kannst auch so viele Wahlplakate von Marine Lepen abreißen wie Du willst, das ist nicht, was die Ideen dahinter zerstört (auch wenn es ein bisschen Befriedigung verschafft, das gesteht ich Dir zu). Wenn Du also heute nicht am Start bist, werden sich andere drum kümmern und ihren Hass säen.

Also komm, Genoss*in, ich hoff‘ ich hab Dich ein bisschen gepiekst, vielleicht sogar geärgert. Aber ich musste es Dir einfach sagen.

Ich für meinen Teil nehm‘ am Samstag mein Fahrrad und schau mich mal in meiner Gegend um. Ich hab zwar keine gelbe Warnweste, aber das kann sich ja noch ändern.

Und im Übrigen: wenn ihr was Intelligentes dazu lesen wollt, folgt Didier Eribon, Geoffroy de Lagasnerie und Eduard Louis in den Sozialen Medien (ist auf französisch).

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