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Reflexionen über »die Maske«

Der aller Orts heftig ausgetragene Masken-Zwist irritiert mich. Wie kommt es nur, dass trotz multipler schwerwiegender Krisen vom Klima über Polizeigewalt und das Verreckenlassen im Mittelmeer bis zur Faschisierung der Staatsapparate und Gesellschaften und dem Zerfall Europas ein Stück Stoff so sehr die Gemüter erhitzt? Gibt es nicht selbst in der Pandemie bedenklichere Entwicklungen, wie der Eingriff in die Versammlungsfreiheit oder die Schließung sämtlicher Kulturaktivitäten?

Ein paar Beobachtungen.

Linke tragen ihre Masken tendenziell gewissenhaft und ohne sich daran zu stören. Neben der Einsicht in die Vernünftigkeit der Sache verstehen Aktivist*innen vielleicht auch eher, dass sich echter Widerstand gegen die Staat und Kapital in ganz anderen Akten ausdrückt und das Tragen einer Maske bedroht sie nicht in ihrer widerständigen Identität. Vielmehr gleicht das obligatorische Maskentragen einem VermummungsGEbot und kann in manchen Situationen sogar wünschenswert sein. Zumindest aber hindert die in Hamburg liebevoll »Schnutenpulli« genannte Mund-Nase-Bedeckung niemanden daran, Geflüchtete zu unterstützen, Kohlebagger zu besetzen, leerstehende Häuser zu öffnen oder Nazis zu blockieren. Geht alles auch mit, vielleicht sogar besser.
Im Umkehrschluss fehlt vielleicht Menschen, die sich gar so sehr ausgerechnet am »Schnüsslappen« (Köln) stören, Militanz- und Widerstandserfahrung. Wenn ich meine Unterworfenheit unter das System an der Maskenpflicht festmache, wird das Tragen der Maske zur Last, geradezu unerträglich. Was für die Einen Ausdruck von Solidarität und Vernunft ist, ist für die Anderen das Symbol ihrer Unterdrückung. Diese kognitive Verbindung gilt es zu lösen. Hier ein paar Vorschläge.

The mask is not your enemy.
Erstmal ist es ja zu begrüßen, wenn Menschen gegen ihre Unterdrückung rebellieren. Manchmal täuschen sie sich aber darin, wovon sie unterdrückt sind. Ich bin hundertproztentig bei den Leuten, wenn sie der Regierung misstrauen und per Dekret verordnete Maßnahmen nicht einfach hinnehmen. Kritik und Ungehorsam sind gut und nicht schlecht. Nun gilt es herauszuarbeiten, wo die wirklichen Probleme, die eigentliche unterdrückerischen Maßnahmen, gegen die Widerstand geleistet werden muss, liegen. Die immer noch dem kapitalistisch-neoliberalen Zeitgeist unterworfene Politik bietet dafür eigentlich eine sehr breite Angriffsfläche mit vielen Steilvorlagen, so dass die Maske wie ein lächerliches Detail erscheint. Wurde etwa die desaströse Gesundheitspolitik der letzten Jahrzehnte aufgegeben und Krankenhäuser wieder erweitert bzw geschlossene wieder eröffnet? Wurde massiv Personal eingestellt und dieses endlich angemessen entlohnt? Wurden die Privatisierungen rückgängig gemacht und die Medizin der Phramalobby aus den Händen gerissen? Wurden alternative Heilmethoden anerkannt und gestärkt (in China musste der Staat umfassende Erfolge der Traditionellen Chinesischen Medizin bei der Behandlung von Covid-19 Patient*innen anerkennen. Davon erfährt man hier nichts, wenn man nicht Fachmedien konsultiert)? Wurde einfach ein bedinungsloses Grundeinkommen eingeführt, um allen Menschen eine sichere Existenz in der Krise zu ermöglichen und somit Ängste und damit verbundene psychische Schäden zu minimieren? Die Antwort auf all diese und so viele weitere Fragen ist natürlich »nein«. Hier ist Widerstand nötig. Welche Idee von Gesundheit wird der Maßnahmenpolitik zu Grunde gelegt? Welches Verständnis von Demokratie und von Abwägung der Rechte und Eingriffe? Wurde die monströse Bürokratie, die von den Bedarfen vor Ort oft nichts mehr weiß, sondern von oben nach unten dekretiert, angetastet? Der Punkt muss sein: lasst uns gemeinsam Maske tragend den Kapitalismus stürzen.

Uminterpretation

Viele weiße Zivilisationsbewohner*innen erleben also das Tragen einer Gesichtsbekleidung als unerhöhrten Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Kaum ein Pandemiethema ist so allgegenwärtig wie dieses. Möglicherweise ist dieses auch eine Art Einstiegsdroge in die sogenannte Coronaleugner*innen-Szene. Der Mangel an Verständnis und auch die Agression, die Menschen mit Maskenproblem erleben, treiben sie in die Arme einer rechtsoffenen Szene, weil sie dort Zustimmung bekommen. Mein Vorschlag wäre, erstens das widerständige Gefühl hinter der Maskenverweigerung anzuerkennen, um dann andere Formen der Widerständigkeit und eine andere Interpretation der Maske vorzuschlagen.

  1. Endlich dauervermummt! Gibt es eine bessere Gelegenheit, völlig unverdächtig der Videoüberwachung, teils mit Gesichtserkennung, ein Schnippchen zu schlagen? Es ist doch wunderbar, dass wir endlich wieder unerkannt durch die Städte und Kaufhäuser gehen können! Wem die Maske nicht reicht, der kann sie im Sommer mit Hut und im Winter mit Mütze kombinieren. Und als Sahnehäubchen lässt sich noch eine Sonnenbrille dazu tragen.
  2. Dank Maske eine verschworene Community: gemeinsam nehmen wir solidarisch diese Einschränkung hin, um diejenigen unter uns (und uns selbst) zu schützen, die eine Erkrankung möglicherweise nicht überleben würden. Wir zwinkern uns verschörerisch zu. Es tut gut, gemeinsam für Schwächere einzustehen, und weil das so ist, verlangen wir im Übrigen die Rettung der Geflüchteten im Mittelmeer und die Beherbergung der Obdachlosen sowie die sofortige Freilassung aller Gefangenen, die keine Gefahr für Leib und Leben anderer sind. Yeah!
  3. Drag for everybody, carnival every day. Lernt von den Kölner*innen: es gibt immer einen Grund, Karneval zu feiern – und dazu gehört, sich zu verkleiden. Und zu einer ordentlichen Verkleidung gehört auch eine Maske. Nutzen wir die Gelegenheit des Verkleidungszwangs für Identitäsverwirrungsspiele und karnevaleske Eskapaden. Die ganze Sache ist doch auch so schon viel zu Ernst.
  4. Wer nicht sehen kann soll hören: die Verdeckung des Antlitzes als Aufforderung begreifen, das Zuhören zu kultivieren. Für all jene, die es mit Levinas halten, und das Angesichts des Antlitzes des Gegenüber als eine notwendige Voraussetzung für Gewaltverzicht unter Menschen ansehen, mag der Verweis helfen, dass die so stark auf das Visuelle fixierte Wahrnehmungskultur der Gewalt durch Kategorisierung Vorschub leistet. Othering hängt viel daran, dass ich Kraft des Anblicks Deiner vermeine zu wissen, wer Du bist. Das Zuhören dagegen ist eine Wahrnehmungspraxis, die uns zunehmend verloren geht. Nicht umsonst ist Gehört-werden ein zentrales Anliegen von Menschen in Konflikten, insbesondere Betroffenen von Gewalt. Und »mit dem Herzen zu hören« die Auffoderung an die Teilnehmer*innen in »Healing Circles«. Friedemann Schulz von Thun hat in der Kommunikationstheorie die vier Seiten einer Nachricht herausgearbeitet (was wir den anderen sagen hören und wie wir es interpretieren) und bei Marshall Rosenberg gibt es das Vier-Ohren-Modell für die vier Arten, wie ich das, was jemand sagt, aufnehme. Richtiges Hören ist also eine wichtige, zu lernende und zu übende und allzu vernachlässigte Praxis. Unsere derzeitige allgemeine Verschleierung könnten wir als Aufforderung zum Zuhören betrachten äh nein verstehen. Das französische gibt einen Hinweis auf die Wichtigkeit des Hörens für das menschliche Miteinander: das Wort „Entendre“ bedeutet sowohl „hören“ als auch „sich verstehen“. Wer gut miteinander auskommt, der hört sich gut: „Ils s’entendent bien“.