Nach der Lesung in Mülheim/Ruhr erreichte mich dies per Mail:
»Eine riesige Last, die eigentlich keine Last, sondern ein riesiger Verlust ist, an der die Linke in D-Land bis heute zu tragen hat, ist der deutsche Faschismus, die Zeit des NS. Die fast vollständige Zerschlagung aller linken Organisationen und Strukturen der damaligen Arbeiterklasse (von der KPD über die FAUD bis hin zu den vielen Arbeitersportvereinen – und diese nur als Beispiele, die mir gerade so einfallen), die Verfolgung und Ermordung abertausender Linker (sowohl proletarische, als auch bürgerliche) und sonstwie Andersdenkender durch das Nazi-Regime, die Flucht derer, denen es gelang zu fliehen (die Linke in Deutschland hat ja damals quasi ihrer klügsten Köpfe verloren), haben riesige Lücken gerissen und so etwas wie linke Traditionen hier komplett zerstört. Anders als zum Beispiel in Italien oder Frankreich, wo es nach dem Krieg kommunistische Parteien und um
sie herum linke Milieus gab, die eine gesellschaftliche Relevanz besaßen, eine breite öffentliche Wahrnehmung durchsetzen und in Anspruch nehmen konnten (selbst diese unsäglichen, kreuzreaktionären Don Camillo-und-Peppone-Filme wären mangels eines entsprechenden realem Hintergrunds bei uns nicht möglich gewesen!), waren die wenigen
Reste der hiesigen Linken gesellschaftlich zum einen völlig isoliert und sahen sich zum anderen (Stichwort: KPD-Verbot) massiver Verfolgung ausgesetzt. Was der Faschismus übrig gelassen hatte, räumte die post-faschistische BRD endgültig ab. Der „Neuen Linken“, die sich dann Ende der 60er-Jahre konstituierte, fehlte somit so etwas wie eine „linke Gegenwart“ (so wie seit dem Zusammenbruch der SU und allem, was da dran hing, einem ja auch der konkrete Versuch fehlt, eine gedachte andere Zukunft in der Wirklichkeit umzusetzen, egal wie Fehler behaftet dieser Versuch war), ein konkreter Rahmen, auf den sie sich beziehen konnte. Man konnte sich im unmittelbaren eigenen linken Leben an nichts abarbeiten oder aus etwas schöpfen, weil da schlicht und einfach nichts mehr war. Was ich hierbei für den / die Einzelne/n wichtig finde: es gab durch das vollkommene Fehlen tradierter linker Milieus auch keine Orte des Rückzugs, die Möglichkeit auch mal „halblang“ zu machen, die eigenen Schwerpunkte zu verschieben, anders zu gewichten. Entweder war man/frau „dabei“, politisch aktiv in den eigenen, jeweiligen Zusammenhängen oder man/frau war „raus“ (wo dann oft auch noch böse verbal nachgetreten wurde). Dazwischen gab und gibt es wenig bis nichts, was dann bei vielen dazu führt, dass sie einfach irgendwann vor Entscheidungen stehen, vor denen sie eigentlich nicht stehen wollen und wo es besser wäre, wenn sie nicht davor stehen müssten: Mach ich weiter? Ohne Netz und doppelten Boden? Mangels Rückzugsmöglichkeiten immer „gezwungen“ aktiv zu bleiben (so wie Haie immer schwimmen müssen, da sie keine Schwimmblase haben)? Auch wenn ich merke, dass Kraft und Elan nachlassen? Oder lasse ich es endgültig und suche – mangels innerlinker Alternativen – einen Ort des Rückzugs innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, wohlwissend, dass ich damit über kurz oder lang auch die Verbindung zu „meinen“ linken Strukturen verliere oder diese, weil ich nicht der einzige bin, der sich zurückzieht, sich einfach auflösen? Letztendlich waren und sind die Linken (als einzelne Menschen) nach 1945 aufgrund der zerstörten linken Traditionen hier immer sozial isoliert gewesen. Außer den eigenen, in vielen Fällen fragilen Zusammenhängen, die aufzubauen und zu erhalten oftmals schon mehr als genug Kraft kostet, gab und gibt es nichts, worauf man/frau zurückgreifen könnte. Wenn diese sich auflösen, wegbrechen oder für einen selber nicht mehr tragfähig sind, steht man – eine der Interviewten hat diese Angst ja auch angesprochen – hier sehr schnell mutterseelenallein mit dem nackten Arsch im Wind da. Was dann eben auch dazu führt, dass Leute für sich dann einfach irgendwann die Entscheidung treffen, dass ein warmes Sofa unter besagtem Arsch ihnen lieber ist (was ich, der ich mein Sofa sehr, sehr schätze, bestimmt niemanden per se vorwerfen will, kommt halt auch immer darauf an, was man auf seinem warmen Sofa macht).
P.S.: Die Offenheit, mit der du im „Vorweg“ deines Buches auch persönliche Probleme (Essstörung, „Sinnkrise“, Therapie etc.) beim Namen nennst, fand / finde ich beeindruckend (auch wenn ich dieses Wort eigentlich nicht mag, weil es Leute so dämlich auf den Sockel stellt, aber ein schlichtes „gut“ trifft es auch nicht). Es hat mich im guten Sinne berührt und ich könnte da noch zig Dinge zu anmerken.
Und nee (ich habe gerade die Rezension aus dem AK gelesen), ich finde nicht, dass ein Buch wie deines die großen Brüche der Linken skizieren muss. Das ist Quatsch. Darüber gibt es genug andere Bücher, Artikel usw.«Jörn (für den Blog freigegeben)
Hallo Jörn,
ich kann mich vielem von dir geschriebenen anschliessen. Was mich aber etwas stutzig macht, ist dein Vergleich über das Fortleben „linker Strukturen“ nach dem NS in Italien oder Frankreich. Das klingt so als könnte „die Linke“ in DE heute wesentlich besser dastehen, hätte sie doch nicht nur ihre aktivsten Köpfe verloren.
Der heutige Blick nach Frankreich und Italien zeigt doch ganz deutlich, dass das Bestehen einer breiten Linken nach dem NS kein Garant oder Vorteil für eine starke Linke im hier und jetzt ist.
Klar: die Verluste in DE waren nicht nur menschlich sehr schmerzlich. Aber die Kapitulation NS-Deutschlands liegt jetzt 70 Jahre zurück. Dazwischen liegen Generationen.
Das wir heute da stehen wo wir sind, das ist schon das Wirken und Ergebnis der „neuen“ Linken. Wir hatten lange Zeit für Aufbau- und Organisierungsarbeit.
Ein Stück weit sah ich mich nach dem Lesen des Buchs in meiner Meinung bestätigt: Die radikale Linke in DE muss es schaffen generationsübergreifend politisch zu arbeiten und zu leben. Das setzt aber eine Abkehr vom subkulturellen Habitus und dem Schmuddelimage voraus an dem wir irgendwie alle – alt wie jung – kleben bleiben. Woran das liegt: keine Ahnung.
Zum Schluss: ich konnte durch das Buch persönlich sehr vieles mitnehmen, danke der Autorin für die Veröffentlichung und verleibe in der Hoffnung, dass irgendwann ein zweiter Band erscheint, der, wenn möglich, die selben InterviewpartnerInnen noch einmal zum Gespräch bittet. Mit der Frage: was hat sich zwischenzeitlich getan?
Vielleicht muss das nicht mal ein Buch werden. Ein nett aufgemachter Blog könnte dazu schon reichen.