Dabeibleiben im 16. Jahrhundert

Buchrezension

»Meine Brüder, sie haben uns nicht besiegt. Wir sind noch frei, das Meer zu durchpflügen.«

Diesen Satz spricht der Protagonist am Schluss zu sich selbst, als er sich aufmacht, eine weiteres, letztes Mal zu fliehen, nach einer weiteren, vernichtenden Niederlage. Er hat sein Leben damit zugebracht, gegen die Herren im Gewand der Fürsten, der katholischen Inquisition und der lutherischen Verräter zu kämpfen, auf der Seite der aufständischen Bauern um Thomas Münzer, auf der Seite der frühkommunistischen Wiedertäufer in Münster und den Niederlanden, auf der Seite der Huren und Juden in Venedig. Wir wissen, wie die Geschichte ausgeht: die katholische Kirche gibt es immer noch, die Lutheraner haben sich als Evangelische Kirche institutionalisiert, von den europäischen Jüd_innen wäre fast nichts übrig geblieben und von den radikaldemokratischen, kommunistischen Bestrebungen dieses blutigen 16. Jahrhunderts bleibt uns nur eine Erinnerung. Hätten sie damals gewonnen, wäre uns der Kapitalismus vielleicht erspart geblieben, mutmaßt die italienische Theoretikerin Silvia Federici in »Caliban und die Hexe«. Angesichts dessen stimmt das Vorangehen von Niederlage zu Niederlage des Anti-helden aus »Q« umso deprimierender.

Der Protagonist selber verzagt nicht, hat aber einige seelische und körperliche Narben davongetragen. Man fragt sich, woher er den Mut nimmt, und auch den Langmut. Wirklich einer, der trotz des unaufhaltsamen Fortschreitens der Reaktion, trotz der sich abzeichenden Siege der Feinde der Emanzipation, dabei bleibt, immer wieder die Lücken und Widersprüche, die Risse und Gelegenheiten sucht. Die Situation erinnert an das, was man heutzutage in den Nachrichten vorfindet. Die katholische Inquisition heißt heute Überwachungsstaat, Erdogan, Trump, Duterte, Big Data, McKinsey und IWF (beliebig fortsetzbar). Zum Teil sind es die gleichen Mittel wie damals, zum Teil andere. Alle gleichen sie sich darin, brutale Schlächter jeglicher Emanzpationsbestrebung zu sein – mit dem entscheidenden Unterschied, dass ihnen heute die Auslöschung der ganzen Welt gelingen könnte. Damals haben sie »nur« ein paar Indigene, Hexen und Häretiker (und dadurch viele Welten) ausgerottet.

Genau deswegen ist das Buch so aktuell. In finsteren Zeiten nicht die Hoffnung und die Handlungsfähigkeit verlieren. Ich frage mich aber ernsthaft, ob ich einen Kampf wie den des anonymen Militanten von »Q« (und seiner GefährtInnen) durchstehen würde. Ich fürchte nein. Vielleicht geht es aber auch nur darum, weiterzumachen und zu sagen: »Sie haben uns nicht besiegt. Wir sind noch frei, das Meer zu durchpflügen.«

Luther Blisset: Q. 799 Seiten, Piper 2002.

(Natürlich geht es noch um ganz andere Dinge in dem Buch: um eine wahnsinnig penibel recherchierte Geschichte der Bauern- und Reformationskriege aus der Sicht der Unterdrückten und Revolutionäre (hier sind die Sozialdemokrat_innen die Lutheraner_innen), um den Gegenspieler Q, der Spion der Inquisition ist und um die Veränderung der Welt im Zeichen des Welthandels und des beginnenden Kapitalismus.)

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