„Du hast es schwer“, sagte neulich eine Mediationskollegin zu mir, „bei den Fällen, mit denen Du zu tun hast, dürfen sich die Leute ja gar nicht vertragen.“ Sie spielte damit darauf an, dass starke ideologische Überzeugungen oft einer Verständigung im Weg stehen, selbst wenn diese möglich, sinnvoll oder sogar (heimlich) gewünscht ist. Das ist meist schade und oft tatsächlich kontraproduktiv ohne dabei emanzipatorisch zu sein. Was passiert da?
Zunächst bin ich mit den meisten Menschen einig, dass jegliche Form einer aufarbeitenden, transformativen oder wiedergutmachenden Kommunikation betroffenenorientiert sein muss. Betroffene sollen entscheiden können, ob und wann sie dazu bereit sind, sie müssen dafür so gut wie möglich informiert und vorbereitet sein. Sie müssen jederzeit abbrechen können, insgesamt muss ein Prozess so gestaltet sein, dass sie maximalen Einfluss und Entscheidungsmacht haben und ihre Entscheidungen respektiert werden. Das sind Grundsätze eines Vorgehens bei Restorative Justice.
Zu einer informierten Entscheidung gehört, so viel wie möglich über den Prozess zu wissen, um abwägen zu können, ob eine Teilnahme im eigenen Interesse ist oder nicht. Das ist ein Teil von Empowerment. Gewalterfahrungen sind Ohnmachtserfahrungen, deswegen ist es wichtig, Betroffenen so viel Verfügungsmacht über ihr Leben wie möglich zurückzugeben. So weit so gut.
Die Möglichkeit, sich umfassend zu informieren und eine abgewogene Entscheidung zu treffen, am besten mit Unterstützung des Umfelds, ist leider manchmal durch bestimmte Überzeugungen und Vorstellungen blockiert. Ich erlebe das vor Allem im Umfeld linker und feministischer Gruppen, wo eine bestimmte Ebenenvermischung stattfindet: die Ebene des politischen Kämpfens und die interpersonelle-relationelle Ebene werden in eins gesetzt. Das führt dann dazu, dass auch im interpersonellen Raum ein Kampf ausgefochten wird, in welchem nach politischen Regeln und Kategorien agiert wird anstatt auf der Basis eigener Gefühle und Bedürfnisse. Auch die Menschlichkeit des Gegenüber wird nur noch eingeschränkt gesehen. Der andere ist nun »Täter«, und dieses Label bedarf keiner weiteren Fragen oder Erklärungen mehr. Politische Analysen von Machtverhältnissen, oft auf ein paar Formeln heruntergebrochen, leiten das Handeln ohne weiteres Nachdenken, denn es scheint ja »alles klar« zu sein.
Dabei entstehen Widersprüche und double binds. Einerseits soll die tatverantwortliche Person »sich keinen Raum nehmen«, andererseits wird Schweigen und Rückzug als Gleichgültigkeit und mangelnde Verantwortungsübernahme gescholten. Es bleibt völlig unklar, was denn nun erwartet wird und in welchem Rahmen. Das gleiche gilt für die Erfüllung von Wünschen und Bedürfnissen. Es ist mir mehrfach untergekommen, dass von den Tatverantwortlichen erwartet wurde, sie sollten wissen, was »das richtige« zu tun oder anzubieten ist. Es sei nicht »Aufgabe« von Betroffenen, den Tatverantwortlichen Hinweise zu geben. Das ist aus zwei Gründen problematisch: niemand kann wissen, was jemand anderes braucht oder will, egal in welchem Kontext. Das ist eine klassische, manchmal fatale, Kommunikationsfalle. Zweitens ist es gerade in Fällen von Gewalt, die ja eine Ohnmachtserfahrung für Betroffene sein kann, wichtig, dass diese über ihre Wünsche und Bedürfnisse bestimmen und diese klar kommunizieren können. Es wäre also geradezu fatal, das genau in diesen Fällen dann wieder aus der Hand zu geben. Es geht also nicht darum, dass Betroffene irgendeine »Aufgabe« für die Tatverantwortlichen übernehmen sollen, sondern darum, dass sie Gestaltungsmacht bekommen und ihre Bedürfnisse erfüllt werden, indem sie sagen, was sie brauchen.
Nicht zuletzt leben viele Betroffene noch Jahre mit einem »Monster im Kopf« und den eigenen Vorstellungen davon, was bei der beschuldigten Person los war. Die Frage, ob es heilsam sein könnte, die beschuldigte Person dazu zu befragen, das Bild von ihr zu aktualisieren und somit ggf. das Monster im Kopf loszuwerden, sowie auch ihre Reaktion zu sehen, wenn man erzählt, was ihr Verhalten für eine:n bedeutet hat, ist verbaut. Ich will damit keineswegs sagen, dass es immer heilsam ist, in Kommunikation zu gehen, sondern dass es eine Erwägung wert ist, weil die Erfahrung zeigt, dass es für viele positiv ist. Ich finde es im Sinne der Betroffenen, die mit dem Erlebten und ihren Gespenstern im Kopf leben müssen, schade, wenn das von vornherein ausgeschlossen wird, entweder weil politische oder moralische Überzeugungen dem im Weg stehen (wie dass man »dem Täter keinen Raum geben« darf), oder weil auf Basis falscher oder mangelnder Information davon ausgegangen wird, so etwas sei zwingenderweise re-traumatisierend oder re-viktimisierend (auf Grund einer Verallgemeinerung der Verwendung des Begriffs Trauma denken viele, sie wüssten darüber Bescheid, aber nur wenige haben tatsächlich fundierte Kenntnisse zu Traumatisierung und dem Umgang damit).
Eine Beobachtung, die ich dabei gemacht habe, ist, dass Betroffene schlechte Unterstützung haben. Wenn sie überhaupt Menschen haben, die sich um sie kümmern, sind diese nicht immer in der Lage, ihre eigenen Vorstellungen hintan zu stellen und den Betroffenen zu helfen, herauszufinden, was gut für sie sein könnte, was sie brauchen und wünschen, ohne das zu verurteilen. Und sie dann dabei zu unterstützen, den gewünschten Weg zu gehen bzw. Informationen darüber zu sammeln, was wie möglich ist und was nicht. Es ist auch nicht von Vorteil, wenn die Unterstützer:innen irgendwann selbst dermaßen emotional mit einsteigen, dass auch sie nicht mehr in der Lage sind, die Kommunikations- und Vermittlungsaufgabe mit dem Gegenüber zu übernehmen oder darin mit einer eigenen Agenda handeln. Betroffenensupport ist dann nicht mehr betroffenenorientiert.
Man kann mir nun vorhalten, dass das Private aber politisch sei, und man deswegen auch auf dieser Ebene »kämpfen« muss. Das stimmt. Es ist ein schmaler Grad, auf dem die Entscheidung, ob man politisch oder persönlich-relationell antworten will, steht. Manchmal geht auch beides gleichzeitig, wenn man es geschickt zu verbinden vermag. Ich denke, es ist wichtig, sich dieser Ebenen bewusst zu sein, um sich dann bewusst für das eine, das andere oder eine Kombination zu entscheiden. Diese Bewusstheit fehlt mir manches Mal, manches Handeln erscheint mir eher reflexartig bestimmten Ideen zu folgen. Im Sinne des Wohlergehens von betroffenen Menschen ist das aber fatal. Denn ja, vielleicht ist es für jemanden genau das richtige, das persönlich Erlebte auf eine politische Ebene zu heben und dort zubehandeln. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist der Vorfall im Umfeld zu politisieren während gleichzeitig interpersonelle Aufarbeitung stattfindet. Und vielleicht ist das Eine richtig zu Beginn, und mit der Zeit der Verarbeitung wandeln sich Bedürfnisse und das andere wird interessanter. Ich bin mir nicht sicher, ob Betroffene in ihrem Umfeld einen sicheren Ort haben, wo sie eine Veränderung ihrer Wünsche und Bedürfnisse ansprechen können, wenn sie befürchten müssen, dass diese als nicht politisch korrekt oder als »Verrat« betrachtet werden. (Das gleiche gilt übrigens für den umgekehrten Fall, wenn Betroffene erst kommunizieren und dann politisch agieren wollen.) Manchmal scheint es mir, dass es sinnvoll sein könnte, Betroffenenunterstützung, also diejenigen, die Betroffene in Watte packen und ihnen helfen, zurechtzukommen, von so etwas wie »Betroffenenberatung« zu trennen. Ich kann total gut nachvollziehen, dass es irgendwann, wenn man mit jemanden schon einiges durchgemacht hat, schwierig wird, sich selbst zurückzunehmen und eine Frage wie die, ob es eine gute Idee ist, sich mit der beschuldigten Person auszusprechen, empathisch und ohne eigene Verstricktheiten zu besprechen. Betroffenenberatung wären dann Menschen, die nicht ganz so nah am täglichen Leid dran sind und die Voraussetzungen mitbringen, strategische Fragen offen zu besprechen. Strategische Fragen im Sinn von: was sind die Optionen des Umgangs, was möchtest Du, dass als nächstes passiert, wohin möchtest Du gehen? Der Antisexistische Support Leipzig scheint mir so eine Struktur zu sein.
Forschungsergebnisse der Viktimologie (Vgl. zB. Vanfraechem, Bolivar & Aertsen: Victims and Restorative Justice. Oxon 2015, 3; 60-61, 158) geben einfach her, dass restorative Prozesse für Betroffene, die dies wünschen und gut darauf vorbereitet wurden, sehr hilfreich bis heilsam sind. Posttraumatische Symptome können messbar zurückgehen (ebenda 67). Ich finde es einfach bedauerlich, wenn Menschen dazu keinen Zugang haben, weil sie ihn sozusagen aus ideologischen Gründen nicht haben dürfen.