Ich sehe, dass die Veröffentlichung von Hennings Versuch der Verantwortungsübernahme einiges an Staub aufwirbelt. Das war zu erwarten, es ist schließlich ein schmerzhafter Prozess der Auseinandersetzung für alle Beteiligten und darüber hinaus.
Ich denke, dass es eine wunderbare Gelegenheit ist, darüber nachzudenken, was wir unter Verantwortungsübernahme verstehen, und was wir als Betroffene, Alliierte oder Gemeinschaftsmitglieder von Tatverantwortlichen brauchen. Denn das Wort „Verantwortungsübernahme“ ist groß – und vor Allem leer. Was heißt das denn für Dich? Und ist es das gleiche wie für mich oder eine dritte, vierte, fünfte Person? Wie geht Verantwortung übernehmen?
Die Nachrichten, die ankommen, sind widersprüchlich – und waren es auch vorher schon, weswegen es für Beschuldigte mitunter sehr schwer ist, sich zu orientieren und zu wissen, was von ihnen erwartet wird. Das ist der Grund, warum sich immer wieder Leute an mich wenden. Sie würden gerne etwas tun, und vor Allem: das Richtige tun, aber sie wissen nicht mehr, was das ist. Sie sollen Verantwortung übernehmen – aber niemand sagt, was das eigentlich ist und was von ihnen konkret erwartet wird.
Ich halte das Argument, dass „das nicht Aufgabe der Betroffenen ist“, für etwas faul: Natürlich ist gar nichts „Aufgabe“ der Betroffenen (außer ihrer eigenen Heilung), andererseits kann niemand erahnen oder erraten, was jemand anderes braucht und ihm*ihr gut tut. Wenn ich die Chancen erhöhen möchte, dass jemand tut, was ich brauche, muss ich es sagen, und dabei gelten die üblichen Regeln aus der Kommunikationstheorie: konkret, positiv formuliert, ausführbar, an eine bestimmte Person gerichtet, zeitlich determiniert.* Das Umfeld kann es übernehmen, das zu kommunizieren (und es hat ja ggf eigene Bedürfnisse, die auch wichtig sind).
Ich orientiere mich an der Erfahrung meiner Kolleg*innen aus Theorie, Forschung und Praxis der Restorative Justice und der Viktimologie. Wir wissen, dass Betroffene sehr unterschiedlich reagieren und unterschiedliche Bedürfnisse haben. Für manche ist eine Aufarbeitung mit der tatverantwortlichen Person heilsam und wichtig, für andere ist Kontaktvermeidung besser, und vieles mehr. Es gibt aber wiederkehrende Themen, an denen ich und andere sich orientieren.
Viele Betroffene von Leidzufügungen…
- brauchen Schutz vor weiterem Übel.
- wünschen sich eine Anerkennung der Taten durch die ausübende Person.
- brauchen die Anerkennung von der Gesellschaft oder Gemeinschaft, dass die Taten Unrecht waren und nicht ein Unglück, dass ihnen widerfahren ist, und dass die Gemeinschaft/Gesellschaft dies nicht akzeptiert und entsprechend sanktioniert. (Sanktion muss nicht Strafe sein!)
- möchten weitere Opfer verhindern und sind daher daran interessiert, dass die tatverantwortliche Person entweder daran gehindert wird oder selbst zur Einsicht kommt. Sie möchten oft von tatverantwortlichen Personen wissen, was es braucht, damit sie es nicht noch einmal tun und was sie dafür zu tun gedenken.
- wünschen sich Wiedergutmachung oder Entschädigung, symbolisch oder materiell.
- wünschen sich eine Entschuldigung durch die tatverantwortliche Person.
- haben von Tatverantwortlichen ein Bild einer Art Monster in ihrem Kopf und empfinden es als erleichternd, wenn durch eine (direkte oder indirekte) Auseinandersetzung dieses Monster sich in das Bild eines normalen Menschen, der (mglw unnachvollziehbare) Fehler gemacht hat, verwandelt.
In Anlehnung an diese Erkenntnisse haben Restorative Justice Praktiker*innen Verantwortungsübernahmeprozesse für Tatverantwortliche entworfen. Ich nutze in meinen Begleitungen eine Kombination aus verschiedenen Modellen des International Institute for Restorative Practices in den USA. Dabei handelt es sich um sieben Fragen, die Tatverantwortliche bei ihrer Auseinandersetzung bearbeiten:
- Was ich getan habe
- Wie es dazu kam
- Wie andere dabei zu Schaden kamen und darunter leiden
- Wie es mir heute mit meinen Handlungen geht
- Was ich tue, um Ähnliches künftig zu verhindern
- Was ich als (symbolische) Wiedergutmachung anbiete
- Wie gesellschaftliche Machtverhältnisse zur Entstehung meiner Taten beigetragen haben
Ich finde diese Schritte sehr sinnvoll und praktikabel. Mit der Zeit können sich die Antworten verändern, weil tiefere Erkenntnisse entstehen, und man kann in der Regel an den Antworten ganz gut ablesen, wo jemand steht. ich denke auch, dass es wichtig ist, zu verstehen, dass Menschen Zeit brauchen für die Konfrontation mit sich selbst, noch dazu, wenn es sich um Seiten handelt, die das eigene positive Selbstbild zerstören. Das ist manchmal für alle Anderen – Umfeld und Betroffene – schwer auszuhalten und sehr frustrierend und kann viel Wut entstehen lassen. Man kann die menschliche Psyche nicht zwingen. Man kann Leute unter Druck setzen, aber das wird ihren Prozess der Auseinandersetzung nicht automatisch beschleunigen. Wie schnell oder langsam jemand mit sich selbst ins Reine kommt, ist individuell sehr unterschiedlich und lässt sich nur schwer kurzfristig von außen beeinflussen. Was es bräuchte, wären kulturelle, soziale und auch institutionelle Bedingungen, die Verantwortungsübernahme ermöglichen und selbstverständlicher machen. Modelle und Vorbilder gibt es bereits, wie etwa die COSA-Kreise in USA/Kanada oder die Healing Lodges kanadischer First Nations. An uns, uns zu inspirieren und eigene Wege zu finden.
- Man kann nicht wissen, was man tun soll, wenn man nur gesagt bekommt, was man NICHT tun soll. Allgemeinplätze oder abstrakte Begriffe wie „Unterstützung“ sind weit interpretierbar und man kann daher nicht wissen, was jemand darunter versteht: was konkret unterstützt DICH? Wenn nicht klar ist, WER etwas tun soll, wird es ebenso schwierig, wie wenn man nicht weiß, WANN oder WIE LANGE etwas passieren soll. Wenn das unklar ist, muss es zumindest Überprüfungstermine geben. Und nicht zuletzt muss die Forderung im realistischen Rahmen der Möglichkeiten der Person sein. Es nutzt gar nichts, Leute zu überfordern, das führt eher zu einer geringeren Umsetzungsquote.