Soll ich mich ins Wespennest setzen und zu einem Thema schreiben, dass so sehr polarisiert? Bei dem Leute sich für das eine oder andere Lager entscheiden sollen und voller Hass auf die Gegenseite schauen? Ich bin mit dem Thema Nahostkonflikt in der Linken sozialisiert worden und mein Ansinnen, und das der Leute um mich herum, war immer, eine differenzierte Position zu erarbeiten. Das Ergebnis war, dass ich für die einen Antisemitin und für die anderen Zionistin war – wahrscheinlich liegt man nicht ganz falsch, wenn man von beiden Extrempositionen aus angefeindet wird.
Eigentlich wollte ich mich heutzutage nicht mehr dazu äußern, zu verzweifelt erscheint mir die Lage und zu unsinnig, sich darüber hier die Köpfe einzuschlagen.
Dann ist aber in den letzten Tagen etwas passiert, was mich umtreibt und was ich zumindest hier einfach mal teilen will. Ich habe einen alten Freund besucht, wir hatten uns sein zehn Jahren nicht gesehen, nur ab und an Nachrichten in Messenger-apps ausgetauscht. Das Wiedersehen war schön, aber irgendwas fühlte sich komisch an. Ich schob es auf die lange Zeit der Distanz und dachte nicht weiter darüber nach. Am letzten Abend saßen wir in einer Kneipe und tranken Bier. Wir redeten über dies und das und kamen auch auf Nahost zu sprechen – das war zu unseren WG-Zeiten immer auch ein Thema gewesen, über das wir diskutierten. Wir waren uns einig, wie schrecklich wir den Krieg finden, dass wir die israelische Regierung für faschistoid halten (wenn nicht für faschistisch), dass das Vorgehen gar nicht geht und man so einer Lösung nicht näher kommt, zumal nicht auf lange Frist. Und dann sagte er etwas, dass mich erschreckte: Die Reaktion der Linken auf den 7. Oktober habe ihm das Herz gebrochen und er fühle sich politisch heimatlos. Und dann erzählte er mir, dass er seit einer größeren Lebenskrise vor einigen Jahren seine jüdischen Wurzeln wieder ausgegraben habe und nun seine jüdische Spiritualität lebe. Er gehe in die Synagoge, sein soziales Netzwek sei hauptsächlich die jüdische Gemeinde, er werde demnächst sogar Kantor. In der Linken fühle er sich nicht mehr willkommen, in Europa nicht mehr wohl. Es habe Paliästina-Soli-Demos vor der Synagoge gegeben, der Rabbiner werde regelmäßig auf der Straße angespuckt und es komme immer wieder vor, dass vor der Synagoge Leute stünden, die alle filmen, die herauskommen.
Ich bin wütend, entsetzt, schockiert. Es ist etwas Anderes, so etwas in der Zeitung zu lesen, oder einen Freund vor sich sitzen zu haben, der es erlebt.
Und nach dem fünften Bier sagte er: »und, Rehzi, ich ziehe im Oktober nach Israel.« Es platzte aus ihm heraus wie aus einem, der die ganze Zeit ein Geheimnis auf dem Herzen trägt und sich nicht traut, es auszusprechen. Erst nachdem er sich versichern konnte, dass diese Information bei mir gut aufgehoben wäre, traut er sich, mir dies anzuvertrauen. Dieses verallgemeinerte Gefühl von Bedrohung, das sich bei jüdischen Menschen wieder breit macht, so dass sie nicht einmal ihren Freund:innen trauen, beklemmt und erzürnt mich. Das darf nicht sein. Wenn das so ist, haben wir als Linke, als Gesellschaft, als Deutsche und als europäische Nachkriegs-generationen versagt.
Ich fuhr von diesem Besuch aus zu einer Konferenz über Abolitionismus. Akademiker:innen und Aktivist:innen sprachen drei Tage lang über das Abschaffen strafender und anderer totaler Insitutionen. Es ist ein politisierter Raum, auch wenn keine politischen Linien jenseits dieses zentralen Themas existieren. Und natürlich war die Konferenz voll von Solidaritätsbekundungen mit »Palästina« oder »Gaza«. Sticker, T-Shirts, Aufnäher, Kuffyas, und auch einzelne Panels oder Beiträge befassten sich damit. Es wurde »Palästina-Limonade« ausgeschenkt.
Um das hier ganz deutlich zu sagen: es ist selbstverständlich völlig in Ordnung und auch richtig, sich gegen den Krieg und die aggressive Siedlungsexpansion zu engagieren und sich mit den Leuten, die da gerade massakriert und vertrieben werden, zu solidarisieren. Es gibt an dieser Katastrophe nichts zu beschönigen, das muss aufhören, Punkt.
Was mir nicht in den Kopf will, ist, warum es in dieser Solidarität keinen Platz gibt für einen ganz klaren Antifaschismus, der die Hamas und das von ihr verübte Massaker vom 7. Oktober verurteilt und sich von ihr distanziert. Die beiden Positionen – Stopp des (meinetwegen) Genozids (ich weiß nicht, ob das, was dort passiert, diese Kriterien erfüllt, aber wenn’s hilft, können wir das gerne so nennen) und Freilassung der Geiseln und Entwaffnung der islamofaschistischen Hamas – das widerspricht sich doch nicht. Das hat doch beides in einem Kopf Platz. Wieso ist das ein Hot Take? I really don’t get it.
Und was mir noch weniger in den Kopf will, ist, wieso es die internationale Palästina-Soli-Bewegung nicht schafft, ihre Solidarität mit den Palästinenser:innen mit einer klaren Kante gegen Antisemitismus zu verbinden. Die furchtbaren Aktionen der israelischen Regierung geben antisemitischen Reaktionen weltweit Auftrieb, Jüd:innen werden bedroht, und anstatt das ganz klar zu skandalisieren und sich davon abzugrenzen, werden diese antisemitischen Reaktionen sogar noch verstärkt. Es gibt also nicht nur keine Verurteilung, sondern Leute aus der Pali-Soli-Bewegung begehen selbst antisemitische Taten, indem sie jüdische Menschen angreifen, vor Synagogen demonstrieren, jüdische Veranstaltungen, die nichts mit Israel oder dem Krieg zu tun haben, stören etc. Und das stört da scheinbar keine:n.
Das ist so falsch, da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll.
Nur so als Frage: wenn die Türkei kurdische Gebiete bombardiert, demonstriert man dann vor der Moschee oder vor dem türkischen Konsulat? Spuckt man dann Türk:innen auf der Straße an und attackiert den Gemüsehändler? Wahrscheinlich nicht, oder? Und wenn Leute das tun, dann verurteilen wir das, richtig?
Und wenn Islamisten irgendwo Attentate verüben, greifen wir dann Muslim:innen auf der Straße an? Nein, oder? Und wenn Nazis und Rechte das tun, dann verurteilen wir das und greifen ein und stellen uns auf die Seite der muslimischen Menschen, die erstens nix für die Attentate der Islamisten können und zweitens ja in der Regel sogar deren Hauptopfer sind. Wieso ist das denn in Bezug auf Jüd:innen anders? Wo ist das Problem?
Und wenn wir schonmal bei der Türkei und Kurdistan sind: wie kommt es eigentlich, dass die kurdische Befreiungsbewegung, die klar antifaschistisch ist, die eine eigene feministische Theorie und einen konkreten Utopievorschlag hat, die seit 50 Jahren gegen die genozidalen Absichten von vier Ländern kämpft – dass diese Bewegung nicht einen Bruchteil der internationalen Solidarität erhält, den Palästina erhält? Auch die Aufteilung von Kurdistan ist ein Relikt europäischer Kolonialpolitik, man könnte sich als »weiße« oder als Europäer:in ebenso verpflichtet fühlen, den kurdischen Freiheitskampf zu unterstützen, man könnte sich als PoC oder Nachkommen kolonisierter Menschen mit dem Kampf der Kurd:innen ebenso verbinden. Auch die Türkei hat neoimperiale Bestrebungen und mindestens einen anderen Genozid bereits verübt (Armenier:innen), der Iran ist eine klerikal-faschistische Diktatur, in Syrien war ein mieser Diktator an der Macht (und jetzt irgendwelche Islamisten) und im Irak gab es sogar Giftgasanschläge auf kurdische Dörfer. Wieso inspiriert das keine Gruppen »Queers for Kurdistan« und das Tragen kurdischer Halstücher? Was haben die Palästinenser:innen, was die Kurd:innen nicht haben?
Mich macht das misstrauisch. Ich befürchte, dass die Motive vieler, die jetzt lautstark gegen den Genozid in Gaza demonstrieren, nicht so edel sind, wie sie aussehen, oder zumindest: dass es viele unreflektierte Haltungen aus einer überschießenden Moral Panic gibt.
Und ja, es ist falsch und fatal, dass der Kampf gegen Antisemitismus instrumentalisiert wird, um die Solidarität mit Palästinenser:innen zu unterdrücken. Dass das vor Allem von Rechten und staatsoffiziellen Seiten wie ein Totschlagargument verwendet wird, Es schadet dem Kampf gegen Antisemitismus, und das wiederum schadet Jüd:innen. Diese Instrumentalisierung kann aber nicht der Grund sein oder als Vorwand benutzt werden, um sich vor einer Positionierung in der eigenen Bewegung zu drücken.
Das situierte Wissen von Deutschen ist: Antisemitismus kann eliminatorisch enden. Er ist nicht einfach nur eine Unterform von Rassismus, sondern folgt einer ganz eigenen projektiven Logik, die eng mit dem Kapitalismus und der Warenform verbunden ist. Der Hass auf Jüd:innen hat sogar eine noch längere Tradition und ist dabei immer wieder handgreiflich bis genozidal geworden. Mitunter war er übrigens eng verknüpft mit Feindlichkeit gegenüber Muslim:innen, wie etwa zur Zeit der spanischen Reconquista.
Das Wissen über Antisemitismus, die Analysen und Erkenntnisse der letzten 40 Jahren linker Auseinandersetzung werden gerade einfach weggewischt. Das ensetzt mich zutiefst. Es zählt nur noch die anti-koloniale Brille, als sei dies die einzig mögliche und einzig gültige Betrachtungsweise. Das ist eindimensional und wird der Komplexität des Themas Nahost in keinster Weise gerecht. Ich erkenne an, dass diese Betrachtungsweise in den letzten Jahren Erkenntnisse zu Tage gefördert hat, die in unseren Diskussionen vor 20, 30 Jahren fehlten. Diese Erkenntnisse machen für mich das Bild nur noch komplexer. Seine Analyse im Gegenteil darauf zu reduzieren ist intellektuell unredlich und führt offensichtlich zu einer völligen Missachtung des Problems Antisemitismus in der Gesellschaft und in den eigenen Reihen. Das wiederum ist unverantwortlich und wort-wörtlich brandgefährlich.
Hallo Rehzi,
das tut mir leid, dass dein Freund sich von der Linken in Deutschland im Stich gelassen, und noch schlimmer, in Deutschland nicht mehr sicher fühlt. Schrecklich, dass Rabbiner(*innen) angespuckt werden oder Synagogen-Besucher*innen gefilmt werden. Die Festnahme dreier potenzieller Attentäter*innen, die wohl entweder israelische oder jüdische Einrichtungen im Visier hatten, gehört zu dieser Bedrohungslage dazu. Dass allerdings daraus die Konsequenz folgt, in ein Land mit einer rechtsradikalen faschistoiden Regierung zu ziehen, kann ich ehrlich gesagt nicht nachvollziehen. Insbesonders nicht, wenn es von einer Person kommt, die sich bisher antifaschistisch positioniert und organisiert hat (aber da ich keine Jüdin bin, und also auch nicht also solche bedroht bin, kann ich das vermutlich auch nicht so nachempfinden). Zudem ist leider in Israel jüdisches Leben auch nicht sicherer als in Deutschland, ganz im Gegenteil. Jüdisches Leben in Israel wird erst sicher sein, wenn alle Menschen in Israel, dem besetzten Gaza und der besetzten Westbank in Sicherheit leben. Und wenn es Gerechtigkeit und Anerkennung für das ausgeübte Unrecht gibt. Das muss ich dir vermutlich nicht sagen, da du ja als Restorative Justice Praktizierende weißt, wie wichtig diese Anerkennung ist.
„Was mir nicht in den Kopf will, ist, warum es in dieser Solidarität keinen Platz gibt für einen ganz klaren Antifaschismus, der die Hamas und das von ihr verübte Massaker vom 7. Oktober verurteilt und sich von ihr distanziert.“ – in meiner Wahrnehmung und Erfahrung es gibt diesen Platz durchaus. Es gibt diese Menschen, die es schaffen – zum Beispiel Palestinians and Jews for Peace aus Köln, Parents Circle Friends aus Berlin (beide Gruppen sprachen bei einer gut besuchten Veranstaltung im Mai im about blank in Berlin), Israelis for Peace (Berlin). Sie benennen die Hamas als Terrororganisation, das Massaker als Massaker und fordern eine Freilassung und Rettung der israelischen Geiseln. Was diese Menschen aber auch schaffen ist, klar zu benennen, dass im Krieg der israelischen Regierung in Gaza zehntausende Unschuldige und Unbeteiligte getötet, man muss schon sagen ermordet wurden. Dass es ein Machtgefälle gibt zwischen der israelischen Regierung und Armee, die u.a. von den USA, Deutschland mit politischem Rückhalt, Geld und Waffen für diesen Krieg unterstützt werden, und der Hamas. Was diesen Menschen gelingt ist, die humanitäre Blockade von Gaza auch zu kritisieren und auch auf die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen der israelischen Regierung und IDF hinzuweisen. Was diesen Menschen weiterhin gelingt ist, den Schmerz der jeweils anderen zu sehen, auszuhalten. Und nicht gegeneinander auszuspielen. Ich finde, das alles ist dir in deinem Beitrag nicht gelungen.
Ich stimme zu, es ist etwas anderes, etwas in der Zeitung zu lesen, oder die Erlebnisse von Freund*innen geschildert zu bekommen. Was meine israelischen Freund*innen mir von ihren Erlebnissen in Deutschland schildern, ist auch schockierend. Mehrere Anzeigen wegen Volksverhetzung wegen des Tragens eines T-Shirts mit der Aufschrift „Jews against Genocide“ oder „Stop the Genocide“ (die UN und viele Menschenrechtsorganisationen haben hinreichend erklärt, warum der Krieg in Gaza die Kriterien eines Genozids erfüllt). Anfeindungen, weil man als Person jüdischer Herkunft nicht dem Bild entspricht, was weiße Deutsche haben, nämlich dankbar im „sicheren Hafen“ Israel zu sitzen und zu sagen „wir haben ein Recht auf Selbstverteidigung egal zu welchem Preis“. Weil meine Friends sagen, „nie wieder muss für alle gelten“ und „until all are safe, no one is safe“ bekommen sie in Deutschland Probleme. Sie haben Israel verlassen, weil dort mit Netanyahu als Regierungschef seit Jahren eine rechte Regierung im Amt ist, die zunehmend die Rechte der arabischen Minderheit einschränkt und die Besiedlung des besetzten Westjordanlands vorantreibt. Und jetzt finden sie sich in Deutschland in einer Situation wieder, in der sie sich auch nicht sicher fühlen, da ihnen hier das Recht ihre Regierung zu kritisieren abgesprochen wird und sie dafür kriminalisiert werden (die Kriminalisierung ist auch bedrohlich für den Aufenthaltsstatus). Diese Leute überlegen auch, Deutschland zu verlassen, weil sie sich hier nicht sicher fühlen. Aber sicherlich nicht in ein Israel mit einer rechtsradikalen Regierung, die gerade einen Genozid verübt.
Ich erlebe es nicht so, dass überall nur die anti-koloniale Brille zählt.
Die deutsche Bundesregierung redet weiter von Staatsräson, obwohl die israelische Regierung täglich Kriegsverbrechen begeht. Mit dieser Staatsräson, in der nur jüdisches Leben in Israel schützenswert ist, helfen wir niemandem weiter. Sie führt nur zu mehr Unrecht und Ungleichheit und dadurch zu mehr Gewalt. In der Linken Szene gibt es weiterhin zahlreiche Menschen, vor allem weiße Deutsche, die dieser Staatsräson folgen und z.T. (bedingungslose) Solidarität mit Israel fordern. Palästinensische Aktivist*innen sind massiv von Polizeigewalt und staatlicher sowie institutioneller Einschüchterung betroffen – wo bleibt da die Solidarität? Sie fehlt nicht nur in Bezug auf konkreten Antisemitismus, wenn Synagogen angegriffen oder jüdische Menschen wegen ihres Glaubens oder ihrer Identität angegriffen werden, sondern auch, wenn Palästinenser*innen deswegen angegriffen werden.
Soweit zu meinen Erfahrungen und Einschätzungen. Ich würde mir wünschen, dass du deine Erfahrungen ergänzt und dass wir es schaffen es wirklich auszuhalten, dass der Schmerz und die Angst groß ist und die Erfahrungen sehr vielfältig. Und dass wir uns gemeinsam für eine menschenrechtsbasierte Politik einsetzen – die ebenso das Aufstehen gegen Antisemitismus beinhaltet, wie das Aufstehen für Sicherheit, Menschenrechte und selbstbestimmtes Leben in Gaza und der Westbank.
Solidarische Grüße
Hi Shy, danke für Deine Antwort. Mir fallen zwei Dinge auf:
1. die einzigen, die Du nennst, die es schaffen, Antisemitismus und Solidarität mit den Palsätinenser:innen zusammenzubringen sind alles selber: Jüd:innen/Israelis (und manche Palästinestinenser:innen in Friedensprojekten auch). Was meine Kritik aber ist: die internationale Gaza-Soli-Bewegung schafft es nicht, sondern im Gegenteil, sie reagiert allergisch auf diese Kritik und sie begeht klar antisemitische Akte, sie distanziert sich nicht davon. Sie schafft es, mit Islamist:innen und Grauen Wölfen zusammen zu demonstrieren (siehe Ismael Küpelis Beobachtungen einer Demo in Dusiburg letzte Woche). Und das ist nicht nur Deutschland. Sobald Du Deutschland verlässt, ist von Kritik an Antisemitismus keine Spur mehr. Die Leute wissen oftmals nicht mal, was das genau ist. Sobald Du eine solche Position einforderst (die beides zusammendenkt) wirst Du als Zionist:in beschimpft (ist mir passiert). Ich lebe zur Hälfte im Ausland. Let me tell you, es ist ein ziemliches Graus.
2. Es ist für mich auch schwer nachvollziehbar, warum man als Linke:r gerade jetzt nach Israel ziehen will, in einen Krieg und eine faschistoide Regierung, zumal auch ich Leute kenne, die von dort gerade deswegen weggegangen sind. Ich höre das aber von europäischen Jüd:innen nicht zum ersten Mal (aktuell auch eine Transperson (!) aus Wien mit der Überlegung. Beide sind Menschen, die regelmäßig dorthin fahren, sie kennen also die Situation vor Ort, sie machen sich keine Illusionen). Der Kommentar meines Freundes dazu war: Sich von Israel abzuwenden, ist ein Luxus, den sich Israelis und US-Amerikaner:innen leisten. Das zeigt mir, dass die europäisch-jüdische Perspektive eine andere ist, weil die Erfahrung anders in den Knochen steckt, vielleicht. Ich werde mir jedenfalls darüber kein Urteil erlauben, weil, wie Du es auch von Dir sagst, ich bin nicht jüdisch und ich weiß nicht, was diese Menschen hier gerade erleben. Ich höre nur: selbst in einem Krieg und einer faschistoiden Regierung fühle ich mich sicherer als in Europa. Ich finde, im Gegenteil, das ist nicht nur nicht zu beurteilen, sondern das sollte für uns, zumal als Deutsche, ein Alarmsignal sein und eine Aufforderung, die Anstrengungen gegen Antisemitismus zu verstärken. (Und natürlich nehmen Menschen Bedrohungslagen auch unterschiedlich wahr, haben unterschiedliche Resilienzen)
3. Ich habe selbst geschrieben, dass ich es fatal finde, wie der Kampf gegen Antisemitismus von staatsoffizieller Seite instrumentailisiert wird (unter anderem um Palästinenser:innen mundtot zu machen und die Palästina-Soli Bewegung zu kriminalisieren).
Mir persönlich fällt die Solidarität sehr schwer, weil ich misstrauisch bin gegenüber den Motiven, vor Allem der internationalen Unterstützer:innen. Ich habe all diese Menschen schmerzlich vermisst auf den Soli-Demos zur Unterstüzung der iranischen Aufstände (und das vor dem Hintergrund, dass die Hamas ein iranischer Proxi ist), in der Solidarität mit den Arabellions 2010, in der Solidarität mit dem kurdischen Kampf. Ich vermisse eine Bewegung, die sich gegen den Genozid in Sudan und in Yemen stellt. Dass es diese Bewegungen nicht gibt, das vielmehr niemanden interessiert, dass die emanzipatorischen Aufstände regelmäßig ignoriert werden, und sich dann massenhaft Menschen für Palästina finden – es macht mich skeptisch. Ich kann nicht umhin, zu denken, dass es da schon auch darum geht, gegen wen man ist, und da fängt es halt an, nach Antisemitismus zu riechen.
Schmerz und Angst sind groß und allgegenwärtig, nicht nur in dieser Region. Das sind nicht unbedingt die besten Ratgeber und sie machen das denken nicht leichter. Deswegen würde ich das Individuen nicht vorwerfen, wenn sie aus einer Position von Schmerz und Angst gerade nicht die besten Ideen haben. Aber eine organisierte Bewegung hat eine andere Verantwortung in Bezug auf das, was sie sagt oder tut. Und in dem Moment, wo jemand Demos vor eine Synagoge machen will (oder eine Filmveranstaltung über jüdisches Leben verhindern möchte), ist sie gefragt, dem Einhalt zu gebieten und eine klare Position gegen Antisemitismus einzunehmen. Da scheint es mir noch Luft nach oben zu geben, gelinde gesagt.
Ich möchte nicht sagen, dass es gar keine reflektierten Stimmen gibt. Sie sind aber, und das sieht man auch daran, dass Du sie aufzählen kannst, eine absolute Minderheit. Und das ist ein Problem.
(Auf Antideutsche bin ich jetzt nicht eingegangen, das ist für mich im Prinzip ein Spiegel: hier wird Rassismus und Kolonialismus ausgeklammert. Ist aber ein anderes Thema und es gibt sie halt auch nicht als internationale Bewegung).
Let’s keeping sitting with difference and discomfort, ich glaube das ist eine gute Übung in diesen Zeiten. Beste Grüße!