Was ist eigentlich Restorative Justice?
Diese Frage ist nicht in Kürze zu beantworten, aber ein paar wichtige Elemente möchte ich hier vorstellen. Zunächst einmal ist Restorative Justice eine Alternative zum Strafen, ein anderer Umgang mit Gewalt und anderen schmerzhaften Konflikten und Geschehnissen. An meiner Terminologie lässt sich vielleicht schon erkennen, dass sich ein restorativer, also heilender, wiedergutmachender Umgang mit Unheil nicht auf Vorfälle beschränkt, die im Strafgesetzbuch aufgelistet sind. Wenn jemand verletzt wurde, gibt es einen Konflikt. Auf diesen kann man so oder so reagieren – Restorative Justice schlägt anstelle von Rache oder Strafe Heilung, Wiedergutmachung und Transformation vor. Dabei geht es ausdrücklich nicht um eine Reihe von zu erlernenden Techniken, wie wenn man sich einen Werkzeugkoffer kauft, sondern darum, auch die eigene Haltung zu überdenken und zu ändern. Was sehe ich, wenn ich eine schmerzvolle Handlung sehe? Einen „bösen Menschen“, der „Strafe verdient“ – oder eine verurteilenswerte Handlung, die vielen von uns auf die eine oder andere Weise auch hätte passieren können und uns daher nicht so sehr von der tatverantwortlichen Person trennt, sowie einen Menschen, der möglicherweise Unterstützung braucht, um sich zu verändern und ähnliches nicht zu wiederholen? Sehe ich hilflose und beschädigte, unmündige Opfer, oder Menschen, die verletzt wurden und Unterstützung brauchen, um das Geschehene zu verarbeiten und dabei für sich selbst entscheiden, was ihnen gut tut?
Restorative Justice sucht weniger nach der Schuld und wie sie zu bezahlen ist (traditionellerweise: durch Leiden), als nach der Verantwortung und wer welchen Teil davon übernehmen muss und kann, und was das bedeutet (also: Wiedergutmachung, Änderung). Somit ist RJ, wie man sie auch abkürzt, eher zukunftsorientiert, während sich die strafende Justiz mit der Vergangenheit beschäftigt.
RJ hebt auch ein zentrales Manko der Strafjustiz auf: die Vernachlässigung der Betroffenen. RJ ist weder „täterzentriert“ wie das traditionelle System, noch übrigens opferzentriert, sondern unterstützt beide bei der Aufarbeitung. Dabei sind die Bedürfnisse der betroffenen Person natürlich wichtig.
Die 3 Leitfragen der RJ lauten: Wer wurde verletzt? Was brauchen die Betroffenen und Beteiligten? In wessen Verantwortung liegt es, dafür zu sorgen?
Während die Fragestellung des Strafjustizsystems sich so zusammenfassen lässt: Kann der Staat beweisen, dass die angeklagte Person das zur Anwendung kommende Gesetz gebrochen hat und wenn ja, welche Strafe ist dafür angemessen?
Restorative Justice wird seit Ende der Siebziger Jahre in vielen Ländern praktiziert, meist in Form einer sozialen Dienstleistung, die eng an das Justizsystem gekoppelt ist. Es gibt aber auch viele eher communitybasierte Programme. Die Wurzeln und das ideelle Erbe von RJ liegt in den Gerechtigkeitspraxen indigener Nationen in von weißen Kolonisator*innen besiedelten Ländern, wie Kanada, USA, Neuseeland und Australien. Ähnliche Praktiken finden sich aber in fast allen traditionellen indigenen Justizsystemen. Ihnen zentral ist die Idee des „Miteinanderverbundenseins“, welches die Gemeinschaft zu einer gemeinsamen und positiven Aufarbeitung verpflichtet und die kollektive Verantwortlichkeit in den Blick nimmt, sowie die Ablehnung von Gewalt als Lösung und die Anerkennung dass unheilvolle Taten meist auch auf der Seite der ausführenden Person auf einen Mangel oder eine Schädigung hinweisen, um die sich die Gemeinschaft ebenso kümmern muss wie um die Heilung der im konkreten Fall betroffenen Person.
RJ ist kein Allheilmittel. Ihre Umsetzung in individualisierten und zutiefst punitiv eingestellten zumal weißen Gesellschaften mit Schwierigkeiten behaftet. Sie könnte aber als First Response die Strafjustiz ersetzen, welche als Last Resort erst nach endgültigem Scheitern restorativer Versuche zur Anwendung käme. So könnte eine Transition von einem punitiven in ein restoratives System gelingen.
Zur Anwendung von RJ in verschiedenen spezifischen Kontexten gibt es mittlerweile viel Forschung und Pilotprojekte, vor allem im englischsprachigen Raum, aber auch in Belgien zum Beispiel. RJ bei Hassverbrechen, RJ bei Partnerschaftsgewalt, RJ bei sexualisierter Gewalt, RJ bei Mord und so weiter – so lange die Betroffenen und Beteiligten dafzu bereit sind und die Moderator*innen sorgsam arbeiten gibt es keine definierte Begrenzung und in allen Fällen wurden bereits gute Erfahrungen gemacht. Viele ehemalige Opfer sind heute Fürsprecher*innen für RJ – wie etwas Thordis Elva, Ailbhe Griffith oder Mpoh Tutu.
RJ basiert auf Freiwilligkeit, Partizipation und Konsens. Niemand kann zu einer Teilnahme gezwungen werden, alle Betroffenen oder Beteiligten sollen teilnehmen können, eine Vereinbarung wird im Konsens getroffen. Niemand kann zu etwas gezwungen werden. Wiedergutmachung, Verantwortungsübernahme und Heilung stehen im Zentrum. RJ wird meistens in Form von Mediationssettings oder als angeleitetes Kreisgespräch (Conferencing, Circles, je nach Region unterschiedlich) praktiziert.
Für mehr Infos könnt ihr mein Buch lesen oder auf vor Allem englischsprachige Literatur zurückgreifen. Gerne komme ich für Vorträge, Workshops und Podiumsdiskussionen zu Euch (nur Covid safe).