Bis jetzt hatte ich das Glück, vielleicht sogar das Privileg, Gefängnisse nur von außen, ihre Funktion nur aus der Theorie und ihr Innenleben nur aus Erzählungen zu kennen. Letzte Woche konnte ich anlässlich der Konferenz des »European Forum for Restorative Justice« in Tallinn (Estland) mit einer Gruppe Konferenzteilnehmer:innen das neugebaute Tallinner Gefängnis besichtigen.
Zunächst war ich mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist: die Einladung kam vom Justizministerium bzw der Direktion des Gefängnisses, die Gefangenen waren nicht gefragt, und ich wollte nicht in einer Art Zoo herumlaufen, wo die Bewohner:innen nur Statist:innen sind, während ich ihrem Lebensraum unterwegs bin. Mit gemischten Gefühlen betrat ich also gemeinsam mit den anderen durch die üblichen Sicherheitsschleusen (ein bisschen wie am Flughafen, aber es gibt mehr Türen) das Gefängnis, das von außen bereits den Eindruck eines Bunkers bietet. Graue Gebäudewürfel aus Beton auf einer platten Wiese, runderhum kurzgehaltener Rasen und Stacheldraht. Kein Baum, keine Blumen.
Das gleiche drinnen: Beton, Edelstahl, Plastik sind die einzigen drei Materialien, die uns in den langen grauen, niedrigen Gängen, Treppenhäusern und Zwischenräumen begegnen. Alles ist rechtwinklig, glatt und künstlich, das Licht kommt aus weißen Neonröhren, die Rohre und Leitungen unter der Decke sind nicht einmal verkleidet. Bereits nach 5 Minuten fühle ich mich bedrückt, ja unterdrückt, habe Schwierigkeiten zu atmen. Dazu kommt der hallende Lärm von 20 sich unterhaltenden Menschen in diesen nackten Resonanzräumen. Man sagt mir, das sei in Gefängnissen fast immer so.
Je nach dem, wo wir gerade sind, kommen mir Assoziationen von Schlachthof, Bürogebäude, Krankenhaus, Uni, Schule, Lagerhalle, Baumarkt, Fabrik, Flughafen. Zufall? Sicherlich nicht. Alles künstliche Zweckumgebungen, gebaut nicht um Menschen zu dienen, sondern um Menschen (oder Tiere oder Dinge) zu verwahren, disziplinieren, transportieren, zu behandeln, einem Zweck zuzuführen. Michel Foucault hat diese Ähnlichkeit der totalen Instituionen gut beschrieben, Ivan Illich hat 12 „Behandlungsformen“ identifiziert, in denen die moderne Welt Menschen quasi gefangen hält. Kein Wunder, dass sich ihre Architektur ähnelt.
Hier im Gefängnis ist das alles überdeutlich. Niemand kann hier heilen, sich auseinandersetzen oder gar nur einen klaren Gedanken fassen. Nirgendwo ist Leben oder wenigstens lebendiges Material, nicht einmal Holz ist verbaut. Nichts ist weich, alles ist hart, glatt, steril. Vermutlich hielt es der oder die Architekt:in für einen humanen Akt, die Metalltüren farbig zu gestalten, aber tatsächlich verstärken die künstlichen Farben nur den Eindruck des abweisenden Artifiziellen. Man nennt das sensorische Deprivation (Entzug von Sinneseindrücken) und das ist eigentlich Folter.
Im Trakt der Untersuchungsgefangenen kommen mir fast die Tränen, eine englische Kollegin sagt später, sie musste beinahe kotzen. Die (noch nicht einmal für schuldig befundenen bzw verurteilten!) Menschen sind hier 23h am Tag in ihrer 9qm Zelle eingesperrt, während einer Stunde dürfen sie alleine, in Begleitung eines Wärters (wir waren im Männergefängnis und die Wärter waren männlich) aufs Dach und dort in einer 4x2m großen Box hin- und hergehen.
Sie befinden sich in ihren Zellen, während wir durch ihren Trakt gehen und wir hören eine Person schreien. Es ist einfach nur verstörend. Wir wollen so schnell wie möglich hier weg.
Nach einem Gespräch mit der Direktorin im Bürotrakt (hier gibt es auch ein Sofa und Bean Bags – sie seien sehr beliebt bei den Gefangen, sagt sie. Ach, sowas aber auch!), geht es zurück. Die Stimmung in der Gruppe ist bedrückt. Viele hier arbeiten häufig in Gefängnissen, als Mediator:innen oder Wissenschaftler:innen. Doch auch sie sind entsetzt davon, dass ein Gefängnisneubau so furchtbar sein kann. Letztlich lässt einen sensiblen Menschen eine solche Umgebung nicht unberührt, egal wie oft man bereits Vergleichbares gesehen hat. Ein amerikanischer Kollege und ich steuern hinter der Eingangstür direkt die erste Rasenfläche an, bevor wir zurück zu unserem Bus gehen. Mit den Füßen im weichen Gras schauen wir zurück auf die Bunker und versuchen, wieder normal zu atmen. Eine Frau wickelt auf der Wiese hinter einem Zaun ihr Kind. Das muss wohl das Frauengefängnis sein. Es ist alles einfach nur deprimierend.
Und das obwohl sich durchaus Mühe gegeben wurde. Das Gefängnis ist unterbelegt, die letzte Justizreform, die ab Juli in Kraft tritt, zielt auf eine weitere Verringerung der Gefängnispopulation ab und die Haftbedingungen in Untersuchungshaft sollen sich verbessern. Lebenslang wird so gut wie gar nicht mehr gegeben, die Gefangenen können aus 80 verschiedenen Menüs wählen, was es erlaubt, gemäß den eigenen Essgewohnheiten und ethischen oder religiösen Ideen zu essen (unter anderem koscher, vegan, hallal, lactosefrei, glutenfrei und – kannte ich nicht – gurkenfrei), die Zellen sind alle mit einem eigenen Badezimmer ausgestattet, wo es ein Klo und eine Dusche gibt – das ist ein wichtiger Unterschied zu den Klos mitten im Raum und den kollektiven Duschen, wo man nur zu vorgegebenen Zeiten duschen kann. In den Werkstätten wird beinahe ein normaler Mindestlohn gezahlt und die (nicht-estnisch sprechenden) Gefangenen werden sogar dafür bezahlt, wenn sie Estnisch-Kurse besuchen. Trotzdem ist das Ding hier eine Katastrophe. Ich frage mich, wie man es aushält, hier zu arbeiten.
Es ist nicht so, dass ich noch einer solchen Erfahrung bedurft hätte, um Gefängnisse für ein absolutes Übel zu halten, das nichts löst und nur neue Probleme schafft. Es ist ein brutaler Ort, angefangen bei der Architektur. Das kann nichts Anderes als Absicht sein, da dies bereits seit 150 Jahren kritisiert wird. Brutale Orte produzieren brutalisierte, zerstörte Menschen. Über Rückfallquoten muss sich niemand wundern. Wie James Bell, der Gründer des W. Haywood Burns Institute in den USA, auf dem Abschlussplenum der Konferenz so überzeugend darstellte: diese Strukturen tun, wofür sie entworfen und eingerichtet wurden. Es sind keine Fehler oder Zufälle. Ihre „relle“ Funktion (im Gegensatz zu ihrer vermeintlichen, vorgegebenen) ist, die Machtverhältnisse zu stabilisieren und zu schützen. Die Besitzlosen von den Besitzenden zu trennen und jede:n an seinem Platz zu halten. Das Gefängnis tut genau das, deswegen finden sich hier immer hauptsächlich arme und prekarisierte Menschen und zwar vor Allem aus den Minderheiten des entsprechenden Landes – in Estland sind es Russ:innen.
Ich hatte befürchtet, in eine Art Zoo-Situation zu geraten. Das ist nicht wirklich passiert. Da das Gefängnis unterbelegt ist, gibt es viele Orte, wo niemand ist, die man besuchen kann. Trotz aller Literatur, die ich bereits zum Thema gelesen hatte, war ich dennoch überwältigt vom Gefühl der Bedrückung, das einen dort heimsucht. Ich weiß nicht, ob ich es überleben würde, dort eingesperrt zu sein.