Die meisten werden diesen Ausdruck aus der Bibel kennen: »Wer von Euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.« Er verweist darauf, dass diejenigen, die andere richten (in alter Zeit und mancherorts auch heute noch zuweilen: steinigen), selbst keine Unschuldsengel und daher nicht in der Position sind, über andere zu urteilen. Theolog:innen können bestimmt noch viel interessantere und vielschichtigere Interpretationen dieses Satzes geben, mir soll es darum gehen, was eigentlich die Allgegenwart von sexualisierter und sexueller Gewalt für den Umgang mit ihr bedeutet.
Mein letzter Workshop in Berlin mit einem Freundeskreis um einen Menschen, dem sexuelle Gewalt vorgeworfen wird, brachte einmal mehr zu Tage, dass es eigentlich keine Menschen gibt, die nicht bereits anderer Grenzen verletzt haben, und dass es eigentlich auch kaum Menschen gibt, die nicht bereits von solcher betroffen wurden. Erinnerungen an meinen allerersten Begleitungsfall wurden wach, mit einer Gruppe, bei der tatsächlich ALLE, egal welchen Geschlechts, Opfer sexueller oder sexualisierter Gewalt geworden waren, und die meisten sich auch Tatvorwürfe machten, selbst wenn dies noch nicht von anderer Seite an sie herangetragen worden war.
Gibt es Menschen mit der moralisch weißen Weste? Gibt es Menschen, die mit Fug und Recht mit dem Finger auf andere zeigen? Vielleicht, aber ich glaube sie sind sehr selten. Jedenfalls viel seltener als all jene, die »SKANDAL!« schreien, wenn mal wieder etwas aufgedeckt wird. Denn als nichts anderes muss man es eigentlich bezeichnen: die Fälle, von denen wir hören, die öffentlichen Callouts, sind lediglich die, die aufgedeckt, die angeklagt werden. So manche werden im Privaten verhandelt, und die allermeisten vermutlich einfach nie angesprochen – abgehakt als weitere schlechte Erfahrung in der langen Reihe derer, die man bereits gemacht hat; abgetan als schlechter Sex; verdrängt und verschwiegen aus Scham, Selbstvorwürfen oder Angst vor der Reaktion der anderen Seite, aus mangelndem Mut zum Konflikt oder zur Konfrontation, oder aus Mangel an Energie für den nervenaufreibenden Prozess, der darauf folgen kann – so viele Gründe sprechen dagegen, es öffentlich zu machen. Was bedeuten muss: wir sehen nur die Spitze des Eisbergs. Ich persönlich glaube ja auch, dass die Statistiken zu Viktimisierung verfälscht sind. Jede vierte Frau heißt es da, oder jede zehnte, je nachdem, wen man fragt. Je länger ich mich damit befasse, je genauer ich hinhöre, desto klarer wird mir: ich kenne keine einzige Frau/FLINTA, die nicht bereits sexuelle oder sexualisierte Gewalt erlebt hat. Und damit meine ich nicht nur Catcalling, sondern handfeste körperliche Übergriffe. Es ist ein Grauen.
Was aber bedeutet das für den Umgang? Wie müsste man eigentlich darüber reden, um dieser Erkenntnis gerecht zu werden? Ist es dann noch sinnvoll, die jeweils einzelnen Betroffenen und Tatverantwortlichen herauszuheben? Ist es dann noch sinnvoll, davon zu sprechen, dass man »sichere Räume ohne Täter:innen« herstellen will? Wie soll das denn gehen, wenn man weiß, dass der einzige Unterschied zwischen denen draußen und denen drinnen ist, dass es bei ersteren öffentlich geworden ist und bei zweiteren nur (noch) nicht? Macht es dann Sinn, bestimmte Leute mehr zu schützen als andere, weil man weiß, dass sie betroffen sind? Müsste man nicht eigentlich alles ganz anders aufziehen? Und macht die Trennung in Betroffene und Tatverantwortliche noch Sinn, wenn man bedenkt, dass die meisten beide Positionen kennen? Dass viele ausüben, was sie am eigenen Leib erlernt haben, was ihnen anerzogen wurde, weil Gewalt eine Sprache ist, die wir alle lernen?
Es ist mir auch nicht richtig klar, was zu tun wäre.
Ich merke nur, dass sich hier Widersprüche auftun bzw. das bestimmte Vorgehensweisen, die sich etabliert haben, eigentlich überhaupt nicht richtig zielführend sind. Mir fallen zwei Richtungen ein, in die sich ein Umgang damit sinnvollerweise gleichzeitig entwickeln könnte: er müsste gleichzeitig genauer und allgemeiner werden. Das würde bedeuten, für die einzelnen, bekannt gewordenen Fälle, genauer zu fragen: was braucht es? Was bedeutet Schutz in diesem konkreten Fall – für wen, vor was? Welche Maßnahmen passen genau hierzu? Und es würde bedeuten, Räume aufzumachen, in denen offen über eigene Täter:innenschaft reflektiert werden kann, das Stigma, die Scham und die Angst zu durchbrechen und ein Sprechen darüber zu verallgemeinern und zu verselbstständlichen; genauso wie es Räumen bedarf, in denen Menschen empowert werden, über ihre Viktimisierungserfahrungen zu sprechen, die Scham, die Angst, das Stigma zu druchbrechen. (Es ist interessant, dass beide Erfahrungen, die der Opferwerdung und die der Täter:innenschaft, ähnliche Emotionen und Reaktionen hervorrufen: Scham und Stigma). Es braucht eine Verallgemeinerung im Sinne kollektiver Verantwortungsübernahme, kollektiver Aktion, kollektiver Transformation. Und es braucht Individualisierung durch Verfahren, die auf interpersoneller Ebene für die einzelnen Betroffenen und Beteiligten befriedend sind, ihnen erlauben zu heilen, wiedergutzumachen, abzuschließen.
Man könnte einwenden, dass eine solche Verallgemeinerung des Sprechens darüber Sexualität nur noch durch die Linse der Gewalt betrachtet und damit einen positiven Zugang dazu verwehrt. Ich würde erwidern, dass in dem Moment, wo etwas anerkannt wird und gesehen werden kann, im Gegenteil die Freiheit für einen anderen Zugang erst wieder entsteht, da nichts so wirksam ist wie das, was mit Macht im (kollektiven) Unbewussten gehalten wird. Je weniger etwas angesprochen und anerkannt wird, desto stärker bestimmt es uns. Was nicht betrachtet und bearbeitet wird, wird wiederholt.