Buchrezension
Regine Wagner-Preusse: Biographie und Politisierung. Was linkpsolitische Aktivisten antreibt. Tectum 2016, 228 Seiten, 24,95€
Vor ein paar Wochen machte mich Bernd Hüttner vom Gesprächskreis Geschichte der RosaLux auf das soeben erschienene Buch »Biographie und Politisierung« aufmerksam. Ich war überrascht und sehr neugierig. Es liegt wohl im Trend der Zeit, die Frage zu stellen, warum Leute sich (weiterhin) politisch engagieren. Ich vertrete ja selbst die These, dass das Weitermachen mit dem Anfangen zu tun hat. Der Titel ist vielversprechend und ich habe mir eine Ergänzung, Erweiterung, Widerlegung oder Bestätigung meiner Thesen und Schlussfolgerungen erhofft. Leider wurde ich ziemlich enttäuscht.
Nun ist es komisch, wenn man als Autorin eines Buches zu einem Thema das Buch einer anderen Autorin zum gleichen Thema bespricht, zumal wenn man nicht anders kann als es eben nicht zu loben. Es mag wie ein Diss aus narzistischen Gründen erscheinen: ich bin toller als Du, mein Buch ist besser. Das ist es nicht. Ich hatte mich gefreut und hätte sehr gerne eine Empfehlung ausgesprochen.
Warum gefällt mir das Buch nicht?
Die Autorin Regine Wagner-Preusse, über die man nichts erfährt als dass sie selbst in den Siebzigern im Umfeld von K-Gruppen aktiv war und sich von diesen entfremdet hat, weil ihr die Antworten nicht mehr genügten, bezieht sich denn auch ausschließlich auf das Milieu der autoritären Parteiszene. Andere Linke als Marxisten-Leninisten, autoritäre Kommunisten oder Sozialisten scheint es nicht zu geben. Warum sie ihre Wahl so eng trifft, erklärt sie nicht.
Die zentrale Frage des Buches lautet, warum sich nicht mehr Leute engagieren. Die Autorin arbeitet sich an den ML-Erklärungen ab, die sich auf den Satz „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ zurückziehen und konstatieren, dass die Leute eben „noch nicht so weit seien“, also das falsche Bewusstsein hätten. Wie aber kommt nun das richtige Bewusstsein in die Köpfe?
Wagner-Preusse analysiert, dass es allein die ökonomische oder Klassenlage nicht sein kann, weil ja unter den gleichen Bedingungen die einen sich wehren und die anderen nicht. Sie findet Antworten in der Psychologie und der Soziologie. Die Motivation, zu handeln, entsteht aus einer Vielzahl von Einflüssen: Familiärer Hintergrund, Vorbilder, Selbstbewusstsein, Erfolgsaussichten, ökonomische Lage, Risiko, Zugehörigkeit zu einer unterdrückten Gruppe. Für diese Erkenntnis braucht sie 230 Seiten, auf denen sie sich intensiv mit zwei Interviews beschäftigt, die sie in völlig offenem Stil anscheinend bereits vor 40 Jahren geführt hat. (Genaueres wird nicht gesagt. Das Buch ist von 2016, aber ein Interviewpartner ist zum Zeitpunkt des Gesprächs 26 Jahre alt und in den Fünfzigern geboren…) Zwischendurch werden auch mal andere Interviews erwähnt, von denen man aber nichts weiter erfährt, weder über deren Verbleib noch warum diese zwei ausgewählt wurden, intensiv präsentiert zu werden und die anderen gar nicht vorkommen. Es bleibt also vieles im Dunkeln.
Jene zwei Interviews, das eine mit einem Kader der DKP, das andere mit einem SPD(!)-Mitglied in der ländlichen Provinz, werden also ausführlich präsentiert, die Situation der Gespräche dargelegt, die Vorüberlegungen und die Gedanken der Interviewerin dargelegt. Die Autorin präsentiert ihr Sichtweise auf die Interviewten, zwischen den Zitaten stellt sie lange psychologische und soziologische Analysen über das gesagte an, was mitunter grenzüberschreitend wirkt und mich beim Lesen peinlich berührt. Wäre ich selber damit einverstanden, derart fernanalysiert zu werden, nachdem ich ein Interview gegeben habe? Wohl kaum. Ich empfinde es als unangebrachtes Eindringen in jemandes Intimsphäre. Zumal mir immer wieder eine Psychoanalyse-regel in den Kopf kam: Man analysiert niemanden, der nicht bei einem in Behandlung ist. Mit welcher Qualifikation Frau Wagner-Preusse dies tut, wird zudem nicht erwähnt (die Seite des Verlags spricht von eine Ausbildung zur Familientherapeutin und Arbeitserfahrung in der Psychatrie). Das schlimme ist aber eigentlich, dass diese ausführlichen psychologischen Untersuchungen der Aussagen eines DKP-Funktionärs und eines SPD-Mitglieds stellvertretend linke Handlungsmotive erklären sollen und dabei überhaupt keine Erkenntnisse zutage fördern! Wir wissen am Schluss, dass die Leute je nach Lebenslage unterschiedlich stark motiviert sind und dass es verschiedene Gründe für ihr Engagement gibt, die in ihrer Persönlichkeit begründet sind. Aha. Echt jetzt. Hätte man ja nie gedacht.
Dass die Motivation, sich zu engagieren, noch von anderen Dingen abhängt als der finanziellen und Klassenlage, weiß jede_r, der_die Hochs und Tiefs von Bewegungen mitgemacht hat und im eigenen Leben Phasen unterschiedlich intensiven Engagements kennt. Und dass Leute zum Beispiel weniger kämpfen, um so mehr Angst sie haben, ist auch kein großes Geheimnis.
Minimaler Erkenntnisgewinne meinerseits: meine Begründung, warum ich mich auf Linke außerhalb von Parteien- und NGO-Strukturen konzentriert habe, hat sich bestätigt. Sie ermöglichen ein Dabei-sein oder Dabei-bleiben, das nichts mit inhaltlicher Motivation zu tun hat, indem sie Leute mit Posten versorgen und durch feste, wenn nicht starre Strukturen Halt geben.
Fazit: ich weiß überhaupt nicht, was dieses Buch erklärt. Schade, dass die Chance, einen Diskussionsbeitrag zur linken Organisations- und Bewegungsdebatte zu leisten, vertan wurde
Danke für die Rückmeldung. Sie irritiert mich.
Immerhin hat sich Rehzi Malzahn (Pseudonym?) sehr intensiv mit meinem Text beschäftigt. Deshalb wundert es mich, wie sie auf ihre Vorwürfe kommt.
Vor dem Hintergrund marxistischer Verheißungen interessierte mich vor allem die Frage, warum nur wenige Mensch politisch aktiv werden. Das hat etwas mit meiner Geschichte zu tun, lebensweltlich, beruflich und auch politisch. Das habe ich im ersten Teil des Textes erläutert, außerdem, wie ich die Interviews ausgewählt habe. (Edwin, der Aktivist und die Ausnahme unter den Industriearbeitern, weil er nach der marxistischen Theorie das „richtige Bewusstsein“ hat. Rudolf, weil ich herausfinden wollte, ob sich bei ihm bei fast gleicher politischer Orientierung andere Motivierungslinien finden lassen).
Mit diesen Fragen habe ich mich in den frühen 1980-ern beschäftigt. Ja, da hat sie richtig gerechnet. Das ist lange her. Stimmt. Aber den großen Parteien laufen heute immer mehr die Leute weg. Sie ziehen sich zunehmend zurück ins Privatleben. Deshalb sind die Ergebnisse der Interviews heute aktueller als je. Wenn ich noch linke Politik machen wollte, dann würden mich das interessieren. Ich sehe es auch als Anregung zum Nachdenken für Gewerkschaften, SPD und DKP, bzw. die Linke, warum sie mit ihrer Politik ihre Adressaten nicht erreichen.
Ich will jetzt nicht auf alle Einwände eingehen. Steht alles im Text. Auch, warum ich mich nur auf zwei Interviews konzentriert habe und welche theoretischen Schlüsse ich aus ihnen ziehe.
Bei genauem Lesen wird sich vieles klären. Insbesondere das vorwurfsvolle Mißdeuten hermeneutischer Interpretation als „Fernanalyse“.
Übrigens: Ich lese gerade ihr Buch „dabei geblieben“: Da geht es um eine andere Zeit, eine andere Lebenswelt. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Interviewten erst seit den 1980-er Jahren aktiv. Das war nach meiner politisch aktiven Zeit. Da waren meine Kinder klein, die Prioritäten hatten sich verschoben.
Ich lese mit Spannung. Ein andermal mehr.