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Happy Birthday Michael!

Am 29. August wäre Michael Jackson 60 Jahre als geworden. Zeit für eine Ehrenrettung. [Lange Fassung des in der »Jungen Welt« veröffentlichten Artikels.]

Der universalistische Freak Michael Jackson.

Ein ewig Rätsel bleiben will ich, mir und anderen“ – Ludwig II, König von Bayern

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Politix

Dass Michael Jackson ein politischer Künstler war, haben die Wenigsten zu seinen Lebzeiten begriffen. Die Wenigsten der gesellschaftlich Privilegierten. Für die Schwarze Communtiy der USA, kolonialistisch Unterdrückte oder jugendliche Außenseiter*innen in aller Welt war es dagegen deutlich. Zwar hat sich MJ nie einer Partei oder Bewegung angeschlossen, keine ideologischen Statements abgeliefert und sich selten zu Themen geäußert, wie es politische Künstler*innen gewöhnlich tun und es auch von ihnen erwartet wird. Aber explizite politische Inhalte bestimmten häufiger als bei vielen anderen Popstars seine Songs. MJ sang und tanzte mit Straßengangs (Beat it), drehte Videos mit Slumbewohner*innen und sozialen Gefangenen (They don’t care about us), reiste als erster US-amerikanischer Sänger in die UDSSR – gerade so, als wären Schranken nur zum Einreißen gedacht.

Mag es auch kindliche Naivität gewesen sein, mit der er in Songs wie „Black or White“ oder „Earth Song“ gesellschaftliche Missstände anprangerte – naiv, weil es stets ein Appell an das Wohlverhalten der Individuen blieb und jeder Analyse von Herrschaftsverhältnissen entbehrte – es war trotz oder gerade wegen dieser Naivität glaubwürdig. Wieviele habe ihn genau deswegen verehrt: weil er das Gefühl vermittelte, es ernst zu meinen; nicht auf Basis einer Theorie sondern aus der Überzeugung des Herzens heraus. Wer sich darauf einließ, konnte es fühlen – so direkt und unvermittelt, dass daraus eine Verbindung entstand, die Außenstehenden unheimlich erschienen sein mag, und die bei den Fans natürlich zu einem großen Teil aus Projektion und Übertragung bestand. Manchmal konnte es einem vorkommen, als wäre mensch Zeug*in der Anwesenheit eines neuen Heilands. Es war geradezu religiös. Seit Elvis wurde um keinen toten Popstar so getrauert – selbst nach dem Jahr der vielen Toten im Pop 2016 stimmt dies noch und verweist Prince auch hier auf den zweiten Platz.

Das wirft Fragen auf. Fragen darüber, welche Bedürfnisse die Person Michael Jackson in so vielen unterschiedlichen Menschen ansprach, Fragen über die Gesellschaft, die diese Bedürfnisse unbefriedigt ließ und eine Persönlichkeit wie die MJs produzierte, Fragen über die Widersprüche, die sich in seinem Leben manifestierten.

LOVE

We had him“ heißt ein Gedicht, das die Afro-amerikanische Dichterin Maya Angelou anlässlich seines Todes ihm zu Ehren geschrieben hat. Die Rapperin Queen Latifah trug es auf dem Memorial in Los Angeles vor und ergänzte ihre eigene Michael Jackson Geschichte: wie sie ihn von Kindesbeinen an verehrte in jener innigen Beziehung, die so typisch ist für die Bindung zwischen den Fans und MJ: „You believed in Michael, and he believed in you“.

Die Leute meinten das ernst, sie empfanden es genau so. „Every person who loved Michael Jackson believed that they had an intimate relationship with him.“ beschreibt Ellis Cashmore, Weißer Professor für Cultural Studies, die Beziehung zischen MJ und den Menschen, die ihn verehrteni. Michael Jackson war ihr Freund, ihr Bruder, er war für sie da, selbst wenn sie ihn noch nie gesehen hatten und niemals sehen würden. Sie wussten, wenn auch sonst niemand es tat, er verstand sie, er glaubte an sie. „Whether we knew who he was or did not know, he was ours and we were his. We had him.“ so schreibt es Maya Angelou. Besser kann mensch es kaum auf den Punkt bringen.

Sie liebten ihn und er sagte: „I love you more.“ Gefragt, was er fühle wenn er bei Konzerten dieser Masse schreiender Menschen gegenüberstehe, antwortete er schlicht: „Love.“

Um Liebe geht es viel bei MJ, bedingungslose Liebe, von der er immer wieder spricht, dass er sie gegenüber der Welt empfände, und es ist diese Liebe oder zumindest die Behauptung dieser Liebe, für die ihn viele wiederum liebten.

Vom Rand aus, über Grenzen hinweg.

Es ist die Liebe der Freaks, der Menschen, die anders sind, der Norm nicht entsprechen.

Er, der Außenseiter, Sohn einer armen Schwarzen Arbeiterfamilie, der Sonderling mit merkwürdigen Hobbies wie Schimpansenhaltung, das künstlerische Genie, der Freak, war der Seelenbruder der Außenseiter*innen. Als von der Gesellschaft Ausgeschlossener war er ihr Spiegel; als Genie war er einer von ihnen, der gesellschaftliche Mauern eingerissen hatte, sich über Grenzen hinwegsetzte. Zu ihm konnten sie aufschauen, mit ihm konnten sie hoffen. Er hatte alles geschafft und sie hatten ihn, also würde alles möglich sein. Das hat eine messianische Kraft, die noch nach seinem Tod Jugendlichen im Irak den Mut gab, zu singen, zu tanzen, ihr Ding zu machen – gegen eine gesellschaftliche Moral, die sie mit dem Tod bedroht.ii

He appeals universally“, sagt Ellis Cashmore.

Es ist der Universalismus eines Freaks, in dessen Bild sich alle wiederfinden können, weil es gängige gesellschaftliche Kategorien gesprengt hat: Nicht Mann noch Frau, nicht Schwarz noch Weiß, nicht Erwachsener noch Kind, nicht Arbeiter noch Elite: Cyborg?

Er akzeptierte keine Grenzen: „They say the sky is the limit, and to me that is really true.“ zitiert ihn das Memorial in Los Angeles. Mit fast übermenschlicher Kraft arbeitete er daran, alles zu erreichen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte, seine Phantasie zu verwirklichen, alles zu sein, was er sein wollte. Barrieren niederzureißen, Kategorien zu sprengen. Sein Lieblings-Superheld war Morph von X-Men „because he constantly transforms himself, (…) he’s very mysterious. He can be all things, become all things. That’s exciting to me.“iii

MJ war eine universalistische, ausgestoßene und wahnsinnig erfolgreiche Kunstfigur, die gleichzeitig an ihrer Authentizität keinen Zweifel aufkommen lassen möchte. Wer Michael Jackson gerecht werden will, muss eine Menge Widersprüche aushalten.

Freakshow

Auf die „Normalen“ übt der Freak eine enorme Faszination aus. Sie sehen ihn nicht als Bruder, sondern als den Anderen, den Nicht-Normalen. Es ist die Faszination des Grusels. Sie beglotzen ihn in Kuriosiätenkabinetten oder auf Youtube und hänseln ihn in der Schule, den Ausschluss stets erneuernd. Die Normalen können von den Freaks nicht lassen, denn ihre Existenz stellt die Normalität in Frage.

Ein Genie von der Größe Michael Jacksons findet daher auch viele Bewunderer_innen unter den Normalen, es bleibt aber die Faszination für das radikal Andere, die jederzeit in Ekel umschlagen kann und dann den Ausschluss, der den Freak ursprünglich einmal erst zum Freak gemacht hat, wiederholt und bestätigt. Bewundert wird der Freak von den Normalen nur, solange er erfolgreich ist und sein Freakigsein eine exzentrische Dekoration ist, die nicht im Weg steht oder unangenehm ist. Solange sein Glanz auch auf die Normalen abfällt, sonnen sie sich darin. Als Genie wird dem Freak ein Platz über dem Durchschnitt zugebilligt, fällt er aus der Gunst, ist er wieder das Monster, das außerhalb und unterhalb der Normalen steht. Verbundenheit entsteht nicht. Gleichheit findet der Freak nur unter Gleichen.

Black or White

Diese Gleichen waren für Michael Jackson ganz besonders die Schwarze Community in den USA und PoCs weltweit.

Gemessen an der Weißen Norm sind PoCs quasi Freaks, besonders einer, der auf einmal nicht mehr Schwarz aussieht. Niemand in der Schwarzen Community hatte mit der Veränderung von MJs Hautfarbe solche Probleme wie die Weiße Öffentlichkeit. Zwar gab es Schwarze Stimmen, die ihm einen Ausverkauf der Schwarzen Identität vorwarfen, im Großen und Ganzen aber war klar, dass MJ einer von ihnen war und blieb, etwas, was er immer wieder betont hat: „I don’t have to look in the mirror. I know I’m black.“iv

Eine Sichtweise, die der Schwarze Schriftsteller Ekow Eshun bestätigt: „He doesn’t stop being Black. Blackness is about culture, Blackness is about how you look at the world. And I think in those terms Michael Jackson remains Black“v.

Für Weiße jedoch scheint ein Schwarzer, der nicht mehr schwarz aussieht, das ultimative Rätsel und ein unerhörter Angriff zu sein. Die Haut, die Haare, die Nase – nichts an seinem Körper blieb undebattiert, Die Haut leide unter einer Pigmentstörung namens Vitiligo, die sie durchsichtig werden lässt, und wenn alle Schönheitsoperierten von Hollywood gleichzeitig in Urlaub führen, wäre die Stadt leer, verteidigte sich MJ: Warum seine Nasenkorrektur so etwas besonderes sei?vi

Abgesehen davon, dass er tatsächlich irgendwann kaum mehr sich selbst glich (manche vermuten, dass er so sein Erwachsenwerden verhindern und sich Peter Pan annähern wollte): weil es eine Schwarze Nase war. Während Weiße sich wie selbstverständlich in Sonnenstudios oder am Strand bräunen, wird dem Schwarzen nicht einmal eine Hautkrankheit zugestanden. Während Weiße ihre Haare färben und dauerwellen, ist das Glätten oder Verlängern bei einem Schwarzen verdächtig. Während ein Haufen weißer Hollywood-diven allerlei Geschlechts aufgepumpt und vollgespritzt sind bis zum geht nicht mehr, war seine Gesichtschirurgie unheimlich. Dem Weißen Diskurs über Michael Jackson wohnte stets ein tiefsitzender Rassismus inne.

Das Schwarze Reden über Michael Jackson war ganz anders. Schwarze kamen wesentlich besser mit dem Anders-sein des Michael Jackson zurecht. Die Vielfalt der PoCs, die Erfahrung, selbst einen nicht weiss-normgerechten Körper zu haben und das Wissen darum, wie dieser sich verändern kann und gestalten lässt, scheint der Erscheinung MJs unter PoCs relativ viel Normalität verliehen zu haben.

Es gehört zur Widersprüchlichkeit seiner Person, diese vordergründige Echtheit von Krankheit und ein bisschen Chirurgie (nicht zu vergessen die Auswirkungen des Unfalls für den Pepsi-werbespot, bei dem er sih Verbrennungen dritten Grades zuzog) mit übertriebenem Styling konterkariert zu haben. Make-up, Frisur und Kleidung waren stets dermaßen jugendlich, androgyn und phantastisch durchinszeniert, dass es keiner mehr für echt hielt, als er sich einmal einen Bart wachsen ließ.

Black Power

Doch in der Black Comunity ging es weniger um sein Äußeres, als um die emanzipatorische gesellschaftliche Leistung. Die Jackson 5 waren in den Sechzigern „a chance for the Black Comunity to have somebody to scream and shout at“vii. Mit Stolz bezogen sich Schwarze Kids auf die Jackson 5 und später auf Michael. Endlich gab es eine eigene, sexy Boygroup wie die Weißen sie hatten, und dann ihn, den Superstar. Diese Möglichkeit, als Schwarze ein Schwarzes Idol von universeller Reichweite, eines, das die Weißen nicht ignorieren konnten, anhimmeln zu können, war ein wichtiger Boost im Selbstbewusstsein vieler Schwarzer Kids. Bisher waren Schwarze Musiker*innen Spartenmusiker*innen für die Schwarze Community und Weiße Freaks. Sie wurden systematisch benachteiligt, weil sie angeblich „nur ein begrenztes Publikum hatten“ (ehem. CBS Vizepräsident Larkin Arnold)viii.

Erst Michael Jackson durchbrach diese Barriere. Noch „Off The Wall“ war ein unverdienter Grammy-flop, erst mit „Thriller“ konnten sie ihn nicht mehr ignorieren. MTV hätte ironischerweise ohne MJs Videos niemals die Bedeutung erlangt, die es später hatte, und doch musste der Sender von seiner Plattenfirma dazu gezwungen, das Video zu „Beat it“ zu zeigen: „MTV didn’t have black people on it. MTV came out of Chicago, and it was about Rock and Roll. Rock’N’Roll equals white.“ konstatiert die Schwarze Schriftstellerin Bonnie Greer.ix Bob Giraldi, der Regisseur von „Beat it“ erzählt: „I do know that after a lot of pushing and shoving and pressuring, it (the Beat it video) did get on (television). It paved the way for many Black artists. So yeah, it was a big deal.“x

Dass die Präsenz von Schwarzen im Musikgeschäft heute als etwas Normales angesehen wird (wesentlich normaler als im Film!), ist ganz entscheidend (auch) Michael Jacksons Kampf gegen die rassistischen Ausschlüsse zu verdanken. Dass das Musikgeschäft jedoch weit entfernt davon ist, unrassistisch zu sein, beklagte Michael Jackson noch 2002 in einer Rede vor der Schwarzen Bürgerrechtsorganisation „National Action Network“ in Harlem.xi

Zahlreiche Schwarze Persönlichkeiten haben MJ für seinen Einsatz Anerkennung gezollt. In einer sehr bewegenden Szene dankt der Schwarze Radiomoderator Steve Harvey MJ in einem Telefoninterview: „I don’t know if anybody’s ever said ‚Thank You‘ to you, for the way you put it down, for all the music you gave us. (…) You have meant a lot to people. And you mean something to Black people, and don’t ever think you don’t and you haven’t.“xii

Age ain’t nothing but a number?

Der tragischste Aspekt des Universalisten Michael Jackson ist sicherlich der Versuch, das Alter zu überwinden. Für einen erwachsenen Mann, der ein Kind sein möchte oder sich als Kind fühlt, gibt es wenig Verständnis und keine Community, außer der der Kinder. Als Erwachsener mit Kindern befreundet zu sein, mutet der Gesellschaft der Erwachsenen, die das Kindsein als etwas Vorübergehendes, zu Überwindendes betrachtet, jedoch seltsam an. Die Welt der Kinder ist für Erwachsene unzugänglich, sie sind ausgeschlossen. Jemand, der diese Grenze überwinden kann, ist unheimlich oder unreif, auf jeden Fall nicht ganz bei Trost. Wenn MJ das konnte, so konnte er es jedoch den Erwachsenen nicht erklären. Die Kind-Identität bedingt eine Sprachlosigkeit über sich selbst. Wie erklärt der Mann, der ein Kind ist, sich der Welt der Erwachsenen? Die Kommunikation muss scheitern. Man steht verständnislos voreinander.

Aus dem liebenswürdigen und bewunderten Genie wurde das verabscheuungswürdige Monster, faszinierend gruselig. Der Freak bekam endlich wieder den Platz, den die Gesellschaft ihm von Anfang an zugedacht hatte: draußen und unten. Und ab diesem Punkt spuckte es sich auch wieder ganz gut auf den Verstoßenen.

Michael Jackson hat das Machtgefälle zwischen sich als Mann und Star und den Kindern, mit denen er sich umgab, sehr augenscheinlich nicht gesehen oder nicht ernstgenommen. Es war einem Teil seiner Identität nicht verstehbar, dass Erwachsene gegenüber Kindern eine Verantwortung tragen und niemals gleiche sind; dass, was unter Kindern harmlos sein kann, zwischen Erwachsenen und Kindern problematisch ist; vielleicht: dass er ein Erwachsener ist!

Die Justiz hat ihn vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs freigesprochen, für eine emanzipatorische Haltung ist das jedoch kein Maßstab, der bürgerlichen Justiz ist nicht zu trauen. Der Fall ist tragisch, weil er so viele Widersprüche aufgewirbelt hat, an denen MJ vermutlich am Ende zu Grunde ging. In etlichen Songs hat er sich gegen die Vorwürfe und die Art, wie mit ihm umgesprungen wurde, gewehrt. Es gibt keinen Grund, ihm das nicht abzunehmen. Wissen tun wir freilich nichts.

Maskulinity trouble

Es verbietet sich, die Aussagen der Kinder nicht ernst zunehmen. Es ist gleichzeitig jedoch nicht zu leugnen, dass Eltern aus finanziellen Gründen ein Interesse daran hatten, Umstände zu dramatisieren, die vielleicht nicht dramatisch waren. Michael Jackson selber hat die Intimität mit den Kindern nie geleugnet, allerdings stets betont, dass sie nicht sexueller Art war. War das wirklich immer eindeutig? Ist die Wahrnehmung eines Kind-Mannes diesbezüglich vertrauenswürdig?

MJ fiel in ein moralisches schwarzes Loch, in einen Widerspruch, der unauflösbar bleibt: Er ist Verdächtiger in einer Kultur, die Opfer zu lange verhöhnt hat und dies nun besser machen will, aber auch Opfer einer Kultur, deren Männlichkeitsbild zutiefst gestört ist. Die männliche Sexualität gilt als bedrohlich, nicht ohne Grund.

Doch Männer unter Generalverdacht zu stellen, tut ihnen Unrecht und hilft nicht weiter. Das Verhältnis Mann-Kind wird zerstört, Mütterlichkeit etwas, das nur Frauen zugestanden wird – und auf das sie dann zurückgeworfen werden. Eine Frau, die sich mit Kindern umgibt, gilt als unverdächtig, vermutlich genau deswegen, weil die Gesellschaft Mütterlichkeit immer noch insgeheim als eigentliche oder wahre Berufung der Frau ansieht. Dem Mann wird sie dagegen komplett abgesprochen, sein Verhältnis zu Kindern erscheint zwielichtig, verdächtig. Es scheint schwer vorstellbar, dass Männer mütterliche Gefühle zu Kindern haben, sie lieben und eine fürsorgliche Beziehung zu ihnen aufbauen können ohne sexualisierte, gewaltvolle Hintergedanken. Umgekehrt nimmt die Zuschreibung Frau-Mütterlichkeit die Gewalttätigkeit und das missbräuchliche Verhalten von Frauen nicht ernst und zementiert die Ungleichheit ein weiteres Mal. Während die Statistik diesen Zuschreibungen Recht zu geben scheint – schließlich geht der überragende Anteil an (sexualisierten) Gewalttaten auf das Konto der Männer – werden diejenigen, die nicht in die Norm passen, mit der Unmöglichkeit ihres Daseins konfrontiert. Als Mann kannst du keine mütterlichen Gefühle haben, das ist nicht vorgesehen, das kann nur pervers sein, du bist ein Freak. Noch komplizierter wird es, wenn du nicht mal ein Mann sein willst.

MJ hat sich selten wie ein „typischer“ Mann verhalten. Seine Singstimme hat er Diana Ross abgeschaut und sich somit einen weiblichen Vocalism gegeben. Auch die Sprechstimme ist dünn und leise, als wolle sie den Stimmbruch, die Mannwerdung verneinen. Michael Jackson war nie ein lauter, polternder Mann. In Interviews spricht er von seiner Verletzlichkeit, offenbart seine Kindlichkeit. Auch die Momente, in denen er vor laufender Kamera ängstlich zitternd über sein Kindheitstrauma und die väterlichen Misshandlungen spricht, passen wenig zum immer noch gängigen Männlichkeitsbild. Welcher erwachsene Mann zeigt öffentlich seine immer noch wirkende Angst vor dem Vater?

Diese emotionale Weichheit ging einher mit einer ausgeprägten Scheu, sich als sexuelle Person zu erkennen zu geben. Er zeigte sich nicht mit Geliebten, sprach nicht gern darüber und je weniger an die Öffentlichkeit drang, desto größer wurde das Geheimnis, um das sich diverse Gerüchte rankten: er sei schwul, transsexuell oder zoophil (wegen der Haltung des Schimpansen Bubbles). Natürlich: das Rätsel als Projektionsfläche. So fühlten sich sowohl Oprah Winfrey als auch Martin Bashir genötigt, ihn nach seinem Sexleben zu fragen: Ob er noch Jungfrau sei, fragt Winfrey den damals 34-jährigen. Er verweigert die Auskunft. Ob er seine Kinder mit Debbie Rowe „natürlich“ gezeugt habe, also wirklich Sex mit ihr hatte, interessiert sich Bashir zehn Jahre später. Auch das Zitat von seiner ersten Ehefrau Lisa Marie Presley, sie habe ein sexuell aktives Eheleben mit ihm geführt, wurde immer wieder von den Medien aufgegriffen. Seine öffentliche Wahrnehmung war die eines asexuellen Wesens. Was ja auch vollkommen ok, aber eben sehr „unmännlich“ wäre.

Umso verwirrender, vielleicht schockierender wirkt daher die Tanzbewegung, bei der er sich offensiv in den Schritt greift und Fick-bewegungen nachahmt. Wie ist das gemeint? Als Behauptung einer erwachsenen Sexualität, als Beweis seiner Männlichkeit oder ist es ein Zitat aus den sexualisierten Tänzen afro-amerikanischer Subkulturen wie Ghetto-Tekk und Dancehall? Die Antwort, die er Oprah Winfrey gibt, ist nicht überzeugend: es entstehe spontan aus der Energie der Musik – Michael Jackson war ein perfektionistischer Choreograph, der nichts dem Zufall überließ: er, der für den Auftritt mit dem Song Billie Jean bei der Show zu Motown 25 die Wirkung eines einzelnen weißen Glitzerhandschuhs kalkulierte. Es ist, als fühle sich ein kleiner Junge bei etwas Verbotenem ertappt und suche fieberhaft nach einer Ausrede.

This is it

Michael Jackson ernst zu nehmen, heißt, Widersprüche auszuhalten und zu verstehen, dass wir so gut wie nichts über ihn wissen, er uns aber viel über uns erzählt. Unser Verhältnis zu ihm offenbart eine ganze Reihe gesellschaftlicher Mechanismen der Kategorisierung, der Ausgrenzung, der Inszenierung, der Spektakels.

Während er stets die absolute Echtheit all seiner Äußerungen behauptete, war unweigerlich alles bereits Teil einer Inszenierung, der großen Show seines Lebens. „Singing a song, I don’t sing it if I don’t mean it.“ sagte er als 14 jähriger in einem Interview, und bekräftigte diese Haltung sein Leben lang: „I think it’s important to be honest. To be an honest performer.“xiii Jeder Rapper behauptet heute das absolute Gegenteil: dass nichts gemeint sei, wie es gesagt ist.

Im Pop Authentizität zu behaupten gleicht einer Quadratur des Kreises: Pop reklamiert für sich ja gerade die Künstlichkeit, die Ironie, die Performance als Spiel mit Wahrheit und Wirklichkeit. Ist Michael Jackson einfach der, der dieses Spiel auf die Spitze getrieben hat bis zur Unkenntlichkeit, der die Widersprüche wortwörtlich zum Tanzen brachte? Oder ist es wahr: Auf der Bühne ein Meister der Inszenierung, der Herr über jeden Handgriff, ein Perfektionist und außerhalb des Rampenlichts ein schüchternes Kind?

Er war das von ihm selbst mit Perfektionismus geschaffene Kunstwerk, das auf Wahrhaftigkeit pocht. Ein Virtuose des Phantastischen – Traumwelten, Kostüme, Visionen – und ein ehrlicher, empfindsamer Sänger, der Leiden mitempfindet und Ungerechtigkeit anprangert. Michael Jackson war die personifizierte Dialektik von Artifiziellem und Authentizität. In diesem Spannungsfeld schuf er einen Raum, der die Wünsche, Träume, Sorgen seiner Fans barg. Die Uneindeutigkeit als Projektionsfläche. Ein ewig Rätsel bleiben wird er.

––––—

iBBC Fernsehdokumentation „The Essential Michael Jackson“, 2002

ii „Bagdad’s Smooth Criminals“ von Andrea Milluzzi, Jungle World 6/13

iiiLive Chat 1995 in den Sony Studios, auf www.youtube.com/watch?v=k0CP0CL7yEQ

ivRede vor dem National Action Network in Harlem, www.youtube.com/watch?v=k7WP4prIwUQ

vBBC Fernsehdokumentation „The Essential Michael Jackson“, 2002

viInterview „Michael Jackson talks to Oprah Winfrey“, ABC 1993

vii Mark Ellie, Choreograf, in BBC Fernsehdokumentation „The Essential Michael Jackson“, 2002

viii BBC Fernsehdokumentation „The Essential Michael Jackson“, 2002

ixEbd.

xEbd.

xiwww.youtube.com/watch?v=k7WP4prIwUQ

xiiSteve Harvey Morning Show 2002, Radio One

xiii Auszug aus dem Interview mit Martin Bashir, Minute 4:33, www.youtube.com/watch?v=UjoIDfsckYY

Dabei Geblieben-soirée in Passau

Loungeabend mit Lesung und Schnapsverkostung.

Vorankündigung: Die notorisch lebensfrohen Baiern aus Passau haben mich eingeladen, doch noch einmal aus meinem Buch «Dabei Geblieben» zu lesen, und sich dafür eine loungige Soirée mit Schnapsverkostung im Anschluss ausgedacht.

Dienstag 05. Juni, 19h, Passau

Save the date. Genaueres folgt.

Ulrike Heider: Keine Ruhe nach dem Sturm

»50 Jahre ’68«

Vorankündigung: Ulrike Heider liest aus ihrem neu aufgelegten Buch »Keine Ruhe nach dem Sturm«, ihrer Autobiographie und umfassenden Beschreibung der Revolten von 68 ff.

Das Buch ist eine ganz besonders intime und ausführliche Beschreibung ihrer Erlebnisse in linken Kreisen in Frankfurt und New York: Hausbesetzungen, Studi-proteste, Solidaritäts-aktionen etc. Ulrike Heider beschreibt dabei detailliert und schonungslos die Degenerierung der Revolte: aus der Bewegung wird Szene, aus Solidarität Zwang, aus Befreiung egoistischer Individualismus, aus der Ablehnung der starren Formen das Bekenntnis zur Spontanität mit einhergehender Beliebig- und damit Belanglosigkeit. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen sind die Schilderungen von befreiten Momenten, von Revolte im Alltag und anders leben so irre inspirierend, scheinen sie so weit weg zu sein und wir ihrer doch so dringend zu bedürfen.

Ich werde diese Veranstaltung moderieren.

Die Idee ist, möglicherweise nach Parallelen zu Erkenntnissen aus meinem Buch «Dabei Geblieben« zu suchen.

07. Juni, Club-Bar King Georg Köln, Einlass 20h, Beginn 21h

Vortrag: Strafe ist Herrschaft

Der Vortrag ist ein Teaser für mein neues Buch »Strafe – Kritik und Alternativen. Eine Einführung«, das (hoffentlich) im Herbst beim Schmetterling Verlag in der Reihe »Black Books» erscheinen wird.

»Auch die klassenlose Gesellschaft wird sich – wenn nötig – gegen Schädlinge sichern. Bestrafen aber – ob zur Vergeltung oder zur Besserung – ist eine Anmaßung des bürgerlichen Klassenstaates.« – Max Hoelz

Strafe ist ein Kern von Herrschaft. Das Überwinden der Straflogik muss daher gleichzeitig Voraussetzung der Überwindung von Herrschaft wie auch ihr Ziel sein. Strafe bedarf immer Institutionen, die sie ausführt, und bedeutet immer, dass sich ein Individuum über das andere erhebt. Wer straft, stellt sich selber ins Recht und den Anderen ins Unrecht. Ohne eine entsprechende Ordnung, die dies verlangt, billigt, ermöglicht und die Umsetzung absichert, ist Strafe nicht denkbar.
Doch wie mit leidvollen Konflikten anders umgehen? Nicht alles erledigt sich durch die Abschaffung des Kapitalismus und die Schaffung bedürfnisorientierter Verhältnisse von selbst. Menschliches Verhalten ist fehlerhaft, Zusammenleben bedeutet immer auch Spannung und Schwierigkeit.
Restorative und Transformative Justice – zu deutsch irgendetwas zwischen „heilende Gerechtigkeit“ und „transformierende Unrechtsbewältigung“ – setzen hier an. Während die Strafjustiz die Justiz des Staates ist, ist RJ/TJ die Konfliktregelung der Leute. Sie fokussiert auf Wiedergutmachung statt Strafe, Reintegration statt Ausschluss und Stigmatisierung, Empathie statt Verurteilung, Dialog statt Verhandlung, Empowerment statt Ohnmacht.
Die Umsetzung von RJ/TJ Praktiken kann in allen Umgebungen, die sich als „Community“ begreifen, hier und heute anfangen. Auch werden verschiedene RJ-Modelle seit den achtziger Jahren in einigen Ländern als Ergänzung zur Strafjustiz angeboten (in Deutschland: Täter-Opfer-Ausgleich/Mediation im Strafverfahren). Doch alles, was die Herrschaft nicht überwindet, trägt nur zu ihrer Erträglichkeit bei oder wird von ihr kooptiert. Das ist ein Spannungsverhältnis, weil die Alternative nicht heißen kann, auf die Umsetzung neuer Ansätze im Jetzt zu verzichten.
Restorative und Transformative Justice Sie sind Modelle für eine selbstbestimmtere Praxis der Unrechtsbewältigung, sowohl im Jetzt als auch in einer befreiten Gesellschaft. Ihren revolutionären Gehalt wird der Vortrag untersuchen und dabei auch auf die Erfahrungen in Chiapas und Rojava eingehen. Nicht zuletzt tut uns allen ein Umdenken im Alltag, ein Ausstieg aus der Straflogik im Umgang miteinander gut.

Ort: neue Gesellschaft für bildende Kunst [nGbK], Oranienstaße 25 – 2. Stock, 10999 Berlin

Veranstalter*innen: Jourfixe Initiative Berlin

SZ-Interview in „Sie sind das Volk“

In der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung gibt es ein so halb glücklich geratenes Interview mit mir.

http://www.sueddeutsche.de/politik/reportageserie-sie-sind-das-volk-die-polizei-ist-ein-feind-aber-nicht-der-gegner-1.3616170

Manches konnte ich der Autorin offenbar nicht vermitteln, anderes blieb im Gespräch einfach außen vor. Dann liest man das Ergebnis und denkt sich: gut, das habe ich schon alles so gesagt, aber so, wie es jetzt da steht, ist es doch alles reichlich verkürzt.

Veganismus macht zB nur einen unwichtigeren Teil meines politischen Lebens aus. Wird hier aber groß aufgeblasen.

Naja.

Gipfelproteste – das gleiche Theaterstück seit Jahrzehnten

Meine Antwort an diejenigen, die meinen, sich jetzt nach #G20HH entsolidarisieren, distanzieren und denunzieren zu müssen.

Leute,

ihr habt echt den falschen Fokus.

Ich bin sicherlich kein Fan von dem was passiert ist und habe meine Kritik hier schon niedergeschrieben.
Aber.
Man muss auch sagen (ich wohne halb in Frankreich), dass das in vielen anderen Ländern die Leute kaum juckt. 25 abgefackelte Autos? Das hat man ungefähr täglich in Frankreich. Brennende Barrikaden? Ihr solltet mal belgische Gewerkschafter*innen sehen, wenn sie streiken. (Siehe auch meinen anderen Blogbeitrag mit Bildern hierzu)
Angesichts des Events und der Polizeibrutalität hätte es noch ganz anders knallen können. So ist es für südeuropäische, ja sogar belgische Verhältnisse doch eher ein „riotchen“ gewesen, das hier nicht mal groß die Medien interessiert.
Mein französischer Freund sagte gerade, er finde das alle sehr lächerlich, sogar der Kampf um die Renten vor ein paar Jahren wäre hier heftiger abgegangen, aber man kenne das ja, die bürgerlichen Organisationen empören sich und „ils se trompent de l’énémie“, sie irren sich darin, wer der Feind ist.
Die Randale mag dumm sein, politisch orientierungslos, nicht zieldienlich und vieles andere, aber: vor Allem ist es keine „Gewalt“. Man kann einem Straßenschild oder einer Glasscheibe keine Gewalt antun. Gewalt kann man nur Lebewesen antun. Man nennt das Sachbeschädigung und das ist der entscheidende Unterschied.

Die Begriffsverwischung dient der Ablenkung von und Verharmlosung der echten Gewalt. Die ist in einem Ausmaß auf Seiten der Polizei passiert, wie ich es seit Genua nicht gesehen habe, und das ist der eigentliche Skandal. Und Gewalt ist das, was Trump, Erdogan, Putin, May, Macron, Merkel und co den Menschen antun. Schaut Euch die Bilder aus Kurdistan an, oder von russischen Demos. Oder die Gesetzgebung von Trump. Oder die Austeritätspolitik in Großbritannien. Das ist Gewalt. Menschen werden verstümmelt und getötet, ihre Leben werden zerstört, sie verhungern oder sterben an heilbaren Krankheiten, die Umwelt geht vor die Hunde. Die deutsche Abschiebepolitik, die Erpressung Griechenlands, der Betrieb von AKWs – Gewalt.
Auch, wie Prof. Albers von der Polizeihochschhule Münster in der SZ schrieb, geht ein Großteil der Eskalation auf das Konto der Polizei, man lehre für solche Events seit Jahren eine andere Einsatzstrategie und er wisse auch nicht, was in seinen ehemaligen Schüler Dudde gefahren sei.

Jede*r, der*die vor Ort war, konnte es spüren: Seit Dienstag haben sie konstant an der Eskalationsschraube gedreht. Das heißt, sie wollten diese Bilder. Ob man dann so doof sein muss, darauf einzusteigen, steht auf einem anderen Blatt.

Das ist für mich das Traurige an der ganzen Nummer: Alle erfüllen ihre Rolle, es ist seit Jahrzehnten das immer gleiche Ritual: Die Polizei spielt den Bluthund des Kapitals und schützt einen Haufen Despoten, Kriegsverbrecher und andere Machthaber*innen und deren Entourage, damit die sich für die nächsten Kapitalverwaltungsmaßnahen verabreden können. Die Protestieren spielen das Festival der Demokratie, die Militanten liefern der Polizei (von selbst oder auf Provokation hin) die Randale, mit der sie ihre Gewalt rechtfertigen können, die Medien spielen die geilen Voyeur*innen, die davon nicht genug bekommen (während sie sich gleichzeitig in den Chor einstimmen, dass man vom friedlichen Protest ja nichts mitbekomme…!). Danach spielen die bürgerlichen Organisationen die Entsetzten und die Politik zerrt Nazivergleiche aus der Mottenkiste.

Sad!

Hat sich eigentlich irgendwas geändert durch solche Spektakel? I doubt it.

Ah doch. Die Grundrechte werden immer weiter abgebaut und die Repressionsschraube weitergedreht.

Boah, ihr langweilt mich alle so. Von Trump über Dudde, „die Autonomen“ und „…Ums Ganze!“ bis Campact, alle haben ihre vorhersehbare Rolle gespielt. Und das geilste ist: alle sind sich einig, dass sie keinen Fehler gemacht haben und die anderen doof sind. Man badet sich, wohlgemerkt jede*r in seiner/ihrer eigenen Wanne, in Selbstgewissheit. Ein bisschen mehr Zweifel, ein bisschen mehr Selbstkritik würde keiner der Akteur*innen schaden.

Wollen wir vielleicht mal alle zusammen aus dieser beknackten Logik austeigen? Dankeschön.

 

G20 ins europäische Verhältnis setzen

Was war da noch in Hamburg? 25 abgebrannte Autos, ein paar Vermummte, brennende Barrikaden, verwüstete Läden?

Während die einen hysterisch werden und die anderen (wie Campact, schäm dich!*) das alles zu einem Werk von Hooligans erklären, mit denen sie nichts gemein haben, und die dritten Nazivergleiche anstellen, sorgt das im Ausland eher für Gähnen. Hier ein paar Beispiele dafür, was in Belgien, Frankreich oder Spanien zu einem Arbeitskampf so dazugehört oder gehören kann, wenn die Umstände es erfordern. LKW, die Tomaten auf die Straße kippen, sind da noch das harmloseste.

Mit folgenden Bildern will ich nicht sagen, dass das immer sinnvoll ist, oder auch nur zum Erfolg führt. Viele der hier angeführten Kämpfe wurden verloren. (Und das ist ein Grund mehr, über den Einsatz dieser Mittel zu streiten).

Was ich sagen will: kommt alle mal runter!

* Ich habe auf die widerlich-unsolidarische, undifferenzierte Stellungnahme von Campact reagiert und werde das hier auf dem Blog veröffentlichen.

Bildergebnis für greve belgique

Belgische Arbeiter im Streik (Generalstreik 2014, Quelle: DH.be)

Bildergebnis für greve france

französische Arbeiter im Streik (Blockade einer Raffinerie 2016 gegen das neue Arbeitsgesetz, Quelle: rts.ch)

französische Winzer*innen zerstören Wein in einem Supermarkt, um gegen den Preisverfall zu protestieren… (Quelle: Midilibre.fr)

… und zünden Sachen an. Das ist nicht das erste Mal. 2007 wurden die Supermärkte gleich ganz abgefackelt. Hooligans? Nein, Winzer*innen, die um ihre Existenz kämpfen. Man beachte, dass MidiLibre ihre Gesichter verpixelt hat. Das ist kein linkes Kampfblatt, das ist die konservative Provinzzeitung im Süden.

 

Hier sehen wir spanische Minenarbeiter… (vermummt…! tststs)

Bildergebnis für minenarbeiter streik spanienBildergebnis für minenarbeiter streik spanien

… die sich mit selbstgebastelten Raketen gegen die Bullen verteidigen. (2012, Quelle, Kuriert.at und youtube)

So #g20 das nicht, linke Bewegung!

UPDATE: erweiterte Fassung! (10.07.)

Der Gipfel wird uns noch lange beschäftigen. Verletzte müssen genesen, Stafverfahren durchgestanden werden, Schlüsse gezogen und Ergebnisse ausgewertet werden. Bevor auch ich wieder in mein anderes Leben zurückkehre, will ich hier, aus meiner Bleibe in Eimsbüttel, einen sprichwörtlichen Steinwurf von der Schanze entfernt, an der Debatte darüber teilnehmen, was das nun alles war und sollte.

Zunächst: Ich bin kein Gipfelfan (mehr). Die Globalisierungsbewegung war Teil meiner politischen Sozialisierung, aber sie hat sich überlebt, und was hat sie erreicht? Ich weiß es nicht (nix?), ich weiß nur, dass ich nicht die einzige bin, die sich irgendwann fragte, was dieser Gipfelhype soll und welchen Zweck das hat. Schon lange interessiert es mich viel mehr, konkrete Kämpfe vor Ort zu führen, zusammen mit Betroffenen. Veränderung im Alltag zu schaffen, Alternativen zu kreieren, ein politisches Leben zu leben. Ein Grund, das Buch „Dabei Geblieben“  zu schreiben, war, dass die Perspektivlosigkeit der linksradikalen Bewegung mich ratlos machte.  Gut, ich habe mal wieder an so einem »Event« teilgenommen, auch weil die Idee, dass das ungestört über die Bühne geht, unerträglich ist. Aber: was hier passiert ist während der ganzen Woche, ist furchtbar tragisch.

Von Beginn an hat die Polizei deutlich gemacht, dass sie auf Eskalation setzt. Den Aufbau der Camps behindert, sich über Gerichtsentscheidungen hinweggesetzt, provoziert. Die Stimmung wurde zunehmend gereizt. Trotzdem war die Tanzdemo am Mittwoch noch bester Laune und ein wunderbarer Ausdruck unserer Vielfältigkeit, unsere Sehnsucht nach gutem Leben, unserer Lebensfreunde. Aber dann kam der Donnerstag. Und ab hier wurden viele Fehler gemacht. (Und  viele Versäumnisse gab es schon in der Vorbereitung.)

»Man kann sinnlose Zerstörung und Polizeigewalt gleichzeitig scheisse finden, ich hab’s für Euch getestet.« (Tweet)

Es war für jede*n mit ein bisschen Erfahrung und Hirn deutlich zu erkennen, dass die Polizei die »Welcome to Hell«-Demo nicht würde laufen lassen. Eine linksradikale Demo ohne Auflagen: das gibt es nicht. Es war auch vielen klar. Und trotzdem sind ein paar Tausend Leute sehenden Auges in die Falle gelaufen. Warum? Die Szenarien waren doch ausreichend unattraktiv: entweder man landet in einem Kessel und steht sich stundenlang die Beine in den Bauch bis man in der Gesa endet oder häppchenweise irgendwann freigelassen wird. Oder jemand liefert den Anlass (und wenn es keine*r von selber macht, dann gibt es wen, der/die dafür bezahlt wird) für einen brutalen Eingriff, es eskaliert und die Randale geht los. Dabei ist klar, dass es zu Schwerverletzten und Toten kommen kann (Genua), und die Polizei hat genauso agiert: Massenpanik vor einer Mauer auslösen, Leute wahllos brutal verletzen, die Versorgung von Verletzten nicht zulassen etc.

Die Frage, die hier zur Debatte steht, ist nicht, ist Militanz gerechtfertigt und gut, sondern: warum zum Henker machen wir uns zum Affen für die Bullen? Es ist eindeutig, dass sie diese Bilder wollten, und wir liefern sie ihnen! Sie verfolgen, im Gegensatz zu uns, und das ist meine Kritik, ein politisches Ziel und haben dafür eine Strategie. Wir sind darin die Marionetten, die nützlichen Idiot*innen. Wir haben nämlich weder einen Plan davon, was wir eigentlich wollen, noch eine Idee, wie wir da hinkommen. Wenn wir die hätten, würden wir schlauer agieren. Zum Beispiel hätte man sich für die W2H-Demo einen Plan B ausdenken können, der die Bullen austrickst und vor logistische Schwierigkeiten stellt, sich an einem politischen Ziel orientiert und nach außen vermittelbar ist. (Auch die Abwesenheit von polizeilichen Kräften in den anderen Städten ausnutzen ist ne super Idee. Wieviele Häuser man hätte besetzen können an diesem  Wochenende!)

Stattdessen unfassbar berechenbares Verhalten. Das lässt sich auch daran erkennen, dass es die ganze Zeit möglich war, an die Strecke der Deligierten zu kommen, wie die Fotos, die Gaffer_innen von Limousinenkolonnen machen konnten, beweisen, und wie ich selbst auch erlebt habe, als ich mich am Samstag mit dem Fahrrad verfahren habe. Überall waren Passant_innen, zu Fuß und zu Rad, mitten zwischen Luxuslimousinen, Delegationen, Kolonnen etc – nur Demonstrant_innen waren keine da. Sprich: man hätte einsickern können. Dafür muss man aber seine schwarzen Lieblingsklamotten zu Hause lassen und in der Lage sein, sich unauffällig zu verhalten und dann intelligent zu agieren. Stattdessen wird fernab im Wanderkessel demonstriert und das eigene Viertel demoliert.

Die Polizei ist ein Feind, aber nicht der Gegner. Der Gegner ist die kapitalistische Moderne.

Was soll das? Angeblich musste man »die Schanze gegen die Bullen verteidigen«. Es ging aber darum, einen Gipfel zu verhindern und die Herrschafts des globalen Kapitals symbolisch anzugreifen, oder irre ich mich? Warum hätten die Bullen denn in der Schanze rumnerven sollen, wenn es einen Riot in Blankenese und an der Alster und an anderen Wohn- und Arbeitsorten von Profiteur*innen gegeben hätte, wenn die ganze Zeit Leute an der Strecke eingesickert wären und Sitzblockaden gemacht hätten, so dass nix ist mit Konzert in der »Elphi«? Ja, ich weiß, es liefen Freitag tagsüber Blockaden, z.T. erfolgreich und gut organisiert. Super war auch die Critical Mass, die stundenlang durch Hamburg fuhr mit tausenden Teilnehmer_innen und so für ein bisschen Unordnung und Unberechenbarkeit gesorgt hat. Währenddessen glaubten irgendwelche Leute, man müsse Barrikaden in der Schanze bauen und dort eine Situation mitkreieren, die völlig aus dem Ruder läuft, wortwörtlich brandgefährlich ist, überhaupt kein politisches Ziel mehr verfolgt und nach außen total unvermittelbar ist. Vor der eigenen Haustür. Wtf. (Und obendrein: nein, es wurden nicht »nur« Rewe und Budni geplündert, man konnte am nächsten Tag sehen, dass die Entglasungen alle möglichen Kleinhändler*innen getroffen haben.)

Man kann aus Rojava und aus Chiapas lernen, dass eine politische Bewegung ein Ziel, eine Perspektive und eine Strategie braucht und in jedem Moment in diesem Kontext und intelligent handeln muss, wenn sie es erst meint. (Dessen bin ich mir bei manchen Hobbyaktivist_innen gar nicht so sicher. Wollen sie WIRKLICH die Welt verändern oder nur ein bisschen das eigene Gewissen beruhigen oder ihre rebellische Phase ausleben?) Zu einer solchen Strategie und intelligentem Handeln gehört dann, die gerade passende Aktionsform auszusuchen, und die kann auch mal militant sein und für Unordnung sorgen. Sie kann aber auch heißen, die Füße still zu halten und den richtigen Moment abzupassen, um mit zwei, drei koordinierten Handlungen eine Blockade oder einen Sabotageakt auszuführen. Oder vieles Andere. Eine Aktionsform ist keine Identität, sondern ein Mittel, um ein Ziel zu erreichen. Sie wird zur Identität, wenn man kein Ziel hat. (Und natürlich ist auch der Weg das Ziel und kein Zweck heiligt irgendwelche Mittel, Widersprüche mitdenken, reflektieren ist also angesagt).

Man kann aus London und Paris lernen, dass willenloses Herumrandalieren zu absolut gar nichts führt außer zu Repressionsverschärfung. Für die Leute dort hat sich durch die Riots nichts, aber auch gar nichts an ihrer Lebenssituation verbessert. Weder werden sie weniger polizeilich drangsaliert, noch haben sie bessere Lebensgrundlagen. Für sowas braucht man eine organisierte Bewegung mit Zielen und einem politischen Bewusstsein, das bei jedem und jeder Einzelnen dafür sorgt, das eigene Handeln in den Kontext des Ziels und der Strategie zu stellen und daran auszurichten. Kollektive Intelligenz. Nicht umsonst hatte der US-Staat tierischen Schiss vor den Suppenküchen der Black Panthers, weil das Orte der kollektiver Bildung waren, die ein politisches Bewusstsein erzeugt haben.
Von besonnenem, verantwortlichem, intelligentem, zielorientiertem Handeln habe ich dieser Tage in Hamburg so wenig gesehen. (Wenig, nicht keins. Es gab gute Aktionen) Vielmehr ging die Strategie der Polizei auf, den Protest sich selbst diskreditieren zu lassen, die Krawalle auf das eigene Viertel zu lenken anstatt auf die Routen der Delegierten, die Diskussionen auf die Riots zu konzentrieren anstatt auf die Inhalte des Protests – und wir haben dabei die uns zugewiesene Rolle perfekt ausgefüllt. (Und erzählt mir jetzt nix von der proletarischen Qualität der Plünderungen, das sind verzweifelte Rechtfertigungsversuche, die nur die eigene Konzept- und Orientierungslosigkeit verschleiern.)

Natürlich kann man nicht das Verhalten jeder einzelnen Person kontrollieren, aber eine Bewegung, die weiß was sie will und die ein politisches Bewusstsein und eine kollektive Intelligenz besitzt, ist in der Lage, Situationen, die ihren erklärten Zielen entgegenlaufen, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Und sie ist in der Lage, auf die Strategien der Gegenseite zu reagieren, anstatt sich vor deren Karren spannen zu lassen, sowie, die Konsequenzen mit einzuberechnen und kollektiv zu tragen. Insofern sind die Ereignisse der vergangenen Tage nur der Ausdruck des desolaten Zustands der linksradikalen Opposition. Wenn es also heißt, dass Rojava ein Hoffnungsträger für die Menschheit ist, dann ist das auch deswegen wahr.

Den Verletzten eine baldige Genesung, den Kriminalisierten Solidarität, der Bewegung eine konstruktive Reflexion.

Antworten/Kommentare sind sehr erwünscht. Ich möchte, dass die Sachen sich ändern, dass wir etwas entwickeln. Pöbeleien werden hier ignoriert.

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Es gibt einige ebenso interessante Auswertungen und erste Debattenansätze hier:

http://lowerclassmag.com/2017/07/wollt-ihr-tote-ihr-chaoten/

Ich hab da einen langen Kommentar geschrieben, der noch viele Punkte ergänzt.

Der Weg in den Autoritarismus beginnt nicht mit Krawallen

Was in Gesprächen mit Leuten noch aufkam, und auch als Antwort auf manche Kommentare:

Es ist wichtig, sich mit der Frage nach den »erlebnisorientierten Jugendlichen« zu befassen und zu verstehen, was da passiert. Sie zu organisieren müsste das Ziel sein. Dabei habe ich wirklich gar keinen Bedarf an Romantisiererei. Diese riots sind eine Sackgasse.

Das andere ist: wir brauchen eine Strategie, um diese Polizeigewalt zurückzudrängen und damit umzugehen. Das heißt, gleichzeitg eine Aufklärungskampagne, Klagen etc, zweitens konkrete Strategien sich zu schützen, die vermittelbar und partizipativ sind. Vielleicht lohnt es sich, das mit der Passivbewaffnung vor dem Hintergrund von HH nochmal vor dem VerfG durchzuklagen oder so.

Das Fremde, die Grenze und die Kunst des Nein-sagens.

Weihnachtslektüre

Dieses Interview mit der Ivan-Illich-Schülerin und Prof. em. der Erziehungswissenschaften, Marianne Gronemeyer, führte ich bereits vor einem Jahr. Niemand wollte es veröffentlichen, nicht die bürgerlichen, nicht die linksradikalen.

Sie denkt zu quer, sie stellt unser Gewohnheiten, Sachen zu sehen, in Frage. Manchmal muss man ein Wort um seine eigene Achse drehen, um seinen verborgenen Bedeutungen auf die Spur zu kommen, sagt sie, und erklärt die Ohn-macht zu einer Form des Widerstandes.

Man muss sich drauf einlassen wollen, sich produktiv verunsichern lassen wollen, nochmal neue Fragen haben und für andere Antworten offen sein – ob Marianne Gronemeyer am Ende Recht hat mit ihrer Einschätzung, ist gar nicht so der Punkt. Dass das Denken nochmal neue Wege geht, auf denen Erkenntnisse zu finden sind, ist das Ziel. Mit denen kann man dann ja wieder weitermachen. Oder aufhören. Oder umkehren. Wie auch immer.

interview-gronemeyer-malzahn

Viel Vergnügen beim Lesen und schöne Feiertage trotz der vermaledeiten Weltlage.

Zeit der Monster

Der passende Kommentar zu meinem Beitrag unten und zur Zeit, in der wir leben, aus einer Zeit, die mit dieser hier erschreckende Parallelen aufweist:

„Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.“

Antonio Gramsci
über die Epoche, die mit dem Ersten Weltkrieg begann.