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Die Gewalt des Regimes Macron

Da ich diese Zeilen schreibe, sitze ich im Zug nach Frankreich. Vorhin erreichte mich die Nachricht eines Freundes, er sei in Béziers auf der »Marche Blanche«, dem Schweigemarsch, für den ermordeten Steve Canio, und es sei zum Fürchten. Die Polizei mache Tötungsgesten gegenüber den Demonstrant*innen, viele hätten aus Angst bereits die (von Anfang an verbotene: ein verbotener Schweigemarsch!) Demo verlassen, die Stimmung sei äußerst angespannt.
Bald kommt die zweite Nachricht, die Demo löse sich auf, es sei zu gefährlich, und die Polizei singe »Wir haben gewonnen«, außerdem mache sie nun Jagd auf die heimkehrenden Teilnehmer*innen. Ich solle mich bereit halten, gegebenfalls seine Anwältin zu kontaktieren. Noch nie habe er so etwas erlebt, und das, obwohl er an vielen militanten Auseinandersetzungen beteiligt gewesen sei, in Paris, Genf, Lyon und anderswo, er viele Gipfel und Proteste miterlebt habe.

Was ist passiert?

Der 21. Juni, längster Tag des Jahres, wird in Frankreich traditionell im Rahmen der «Fête de la musique» begangen, überall gibt es Konzerte und Parties im öffentlichen Raum. In Nantes waren die Veranstaltungen bis 4 Uhr morgens erlaubt. Um 4h15 (!) griff eine Polizeieinheit in Nantes auf einer Loire-Insel feiernde Student*innen an, viele sprangen aus Panik in den Fluss, einer, Steve, tauchte wochenlang nicht mehr auf, bis vor Kurzem seine Leiche gefunden wurde. Steve Canio ist ertrunken, als er vor einem brutalen Polizeieinsatz flüchtete.
Die Reaktion der Politik war zunächst wochenlanges Schweigen auf die in zahlreichen Medien und von Aktivist*innen und Freund*innen Steve’s gestellte Frage „Wo ist Steve?“ (#oueststeve?). Kein Wort kam der Regierung über die Lippen. Nun, nachdem klar ist, dass Steve durch diesen Polizeieinseatz zu Tode kam, heißt es, die Polizei habe natürlich gar nichts falsch gemacht und Steve sei selber schuld, alle möglichen kruden Versionen wurden verbreitet (und als Lügen entlarvt, zuletzt von einem Statement der Rettungssanitäter, die zum Einsatzort kamen).

Seitdem explodiert das Land vor Wut. Denn der Tod von Steve ist nur der letzte Kulminationspunkt einer immer repressiver und brutaler vorgehenden Regierung. Die Gilets Jaunes (Gelbwesten) haben mindestens einen wenn nicht zwei Tote durch Polizeihand (so etwa Zineb, eine alte Frau, die beim Schließen ihrer Fensterläden in Marseille von einer Tränengasgranate aus geringer Distanz, man kann es nicht anders sagen: abgeschossen wurde) zu beklagen, abgesehen von den Hunderten Schwerverletzter und Verstümmelter (abgerissene Hände und Ohren, zerstörte Augen, andere schwerste Gesichts- und Kopfverletzungen mit bleibender Entstellung) durch den Einsatz der sog. »Flashballs» Schockgranaten und Tränengasgranaten, die systematisch auf Kopfhöhe abgeschossen werden. Dazu kommen die zahlreichen Fälle von Misshandlung und Ermordung (präkarisierter) Jugendlicher (mit Migrationshintergrund) in Polizeigewahrsam (Adamá Traoré tot, Théo vergewaltigt, um nur zwei zu nennen), um die sich seit geraumer Zeit das »Comité Adamá« kümmert, dem auch der Soziologieprofessor und Theoretiker Geoffroy de Lagasnerie angehört. Seine Analysen zur Frage der Polizeigewalt sind brandaktuell und von äußerster Wichtigkeit für diesen Kampf. (Er spricht von »ordre policier« und nicht von »violence policière« um damit zu kennzeichnen, dass alles polizeiliches Handeln gewalttätig ist, und es eine Falle ist, es in legitim und illegitim oder verhältnismäßig und unverhältnismäßig zu unterscheiden, zumal sich die Polizei immer mehr selbst als Macht begreife, die dafür da sei, die »ungewollten« Bevölkerungsanteile (also den Surplus, die Misérables) zu eliminieren).

Nun, das ist der Hintergrund, vor dem heute im ganzen Land der »38. Akt« der Gilets Jaunes im Zeichen des Protests gegen die polizeiliche Tötung von Steve über die Bühne geht. In Nantes dauern zur Stunde die Strassenkämpfe noch an, und es wird von Schusswaffeneinsatz berichtet (ob das stimmt, wird noch zu überprüfen sein, aber es wundert halt niemanden mehr und man hält es, auch vor dem Hintergrund des Verhaltens der Polizei in Béziers, für möglich.) In Paris wird von der größten Mobilisierung seit Monaten berichtet. Die Regierung Macrons hat sich zu einem autoritären Regime entwickelt, das jeden Widerspruch mit brutalstmöglicher Gewalt beantwortet, während sie sich jede Kritik an den Polizeieinsätzen oder den Gebrauch des Begriffs »Polizeigewalt« verbittet, man lebe ja in enem Rechtsstaat, und da sei das per definitionem von vornherein ausgeschlossen.

Mir fällt dazu einfach nichts mehr ein. Ich wünsche mir die Zeit zurück, als Orwells 1984 ein Roman war. Gleichzeitig verneige ich mich vor dem Mut der Leute, auf die Strasse zu gehen, in dem Wissen, das nichts und niemand dich davor schützen kann, selbst Opfer schlimmster Verletzungen zu werden, oder verhaftet und für nichts und wieder nichts für Monate in den Knast zu wandern. Seit Beginn der Gilets Jaunes Proteste wurden Hunderte in Schnellverfahren für Lappalien zu Gefängnisstrafen verurteilt. Wann endlich fällt auch im Ausland auf, dass Macron nur ein auf Schönling getrimmter TrumpPutinErdogan ist? Die Strategie, das schlimmste zu verhindern (nämlich die Machtübernahme durch Marine LePen, also die FaschistInnen*) scheint endgültig als gescheitert angesehen werden zu müssen. Man fragt sich immer öfter: hätte LePen es schlimmer machen können?

Es sind düstere Zeiten.

 

*ich glaub die kodieren sich selber alle als binär, das ist ja schließlich ein faschistischer Laden.

Versuch über »Heimat«

Links sei da, wo keine Heimat ist. Diesen pseudoradikalen Spruch habe ich auch lange nachgeplappert. Dabei empfand ich eigentlich immer etwas anderes. Da es nach wie vor als schlaue Strategie »gegen rechts« gilt, auf dem Heimatbegriff herumzuhacken, allen voran Thomas Ebermann in »Linke Heimatliebe«, hier ein Versuch, ihn ideologisch zu entkoppeln. Es geht mir darum, zu zeigen, dass er nichts Böses an sich haben muss, dass es vielmehr ein sinnloses Unterfangen ist, Menschen dazu zwingen zu wollen, sich von einem emotionalen Teil ihrerselbst abzuschneiden, als sei das für die Emanzipation notwendig. Menschen Sentimentalität vorzuwerfen und sich zu wünschen, sie würden auf Grund rationaler Einsicht anders fühlen als sie tun, geht jedenfalls völlig am menschlichen Wesen vorbei und eignet sich eher für die Errichtung von Erziehungsdiktaturen als von freien Gesellschaften. Ich würde im Gegenteil vielleicht sogar soweit gehen, zu sagen, dass das Gefühl des Beheimatet-Seins als Teil von Ich-stärke eine Grundlage für Kosmopolitismus ist.

Ich habe Geographie studiert, eine Wissenschaft die sich mit der Beziehung von Menschen zu Orten befasst. Das Wort »Heimat« bezeichnet eine solche Beziehung. Alena Dausacker, die eine Masterarbeit zum Thema Heimat geschreiben hat, hat diese Mensch-Raum-Beziehung auf den Punkt gebracht. Ich zitiere aus ihrem Twitter-Thread, in dem sie die Gründung des »Heimatministeriums« kritisiert:

„Heimat ist subjektives Geborgenheitsempfinden, das mit einem konkreten, erfahrbaren Raum gekoppelt ist. Einem Dorf, einem Strassenzug, einer Landschaft.“

Und genau deshalb ist »Heimat« etwas anderes als »Patriotismus« oder Nationalstolz:

„Keiner nimmt den fucking Nationalstaat als Raum wahr. Das *können* wir gar nicht.“ Und: „Heimat ist subjektiv und bedeutet für jeden was anderes, wenn es auch bei Leuten aus derselben Region voraussichtlich signifikante Überschneidungen gibt. Heimat ist vor allem an Kindheitserinnerungen gekoppelt.“

Das ist der Grund, warum es sich hauptsächlich um einen Sehnsuchtsbegriff handelt: die Geborgenheit, die Sicherheit, die Sorglosigkeit sind mit dem Erwachsenwerden für immer verloren. Diesen Verlust kann man in einer besseren Welt zwar abfedern – durch soziale Sicherungssysteme und eine angstärmere Lebensgestaltung etwa – verhindern kann man ihn nicht. Erwachsenwerden bedeutet per definition Abschied von der Kindheit und man kann eben niemals dahin zurück, auch im Kommunismus nicht. »Meine Heimat ist die Sehnsucht«, soll der griechich-stämmige New-Yorker Dirigent Dimitri Mitropoulos einmal gesagt haben, wissend, dass der Ort, an den er zurück wollen würde, längst nicht mehr existiert: nicht nur, weil sich der Ort verändert hat, sondern auch, weil er selbst sich verändert hat. Er kommt nicht als der gleiche zurück, als der er weggegangen ist. Heimat ist also vor allem die Vorstellung von etwas.

Der Auskennen und Verstehen–Aspekt der Heimat.

Sich an einem Ort wirklich gut auskennen, seine kleinsten Ecken kennen und seine Veränderungen mitverfolgen und nachvollziehen, ist ein Faktor für das heimatliche Geborgenheitsgefühl. Ein anderer ist das Verstehen und Verstandenwerden. Die Sprache in ihren Nuancen und lokalen Spezialausdrücken durchdringen, sich ohne Anstrengung direkt verständlich machen – auch das fühlt sich nach »Zuhause« an. Diese beiden letztgenannten Aspekte sind die »mobilen« Aspekte von Heimat: Dort wo ich mich gut auskenne und mich verstanden fühle/mich verständlich machen kann, muss ich nicht herkommen, um mich beheimatet zu fühlen. Das kann ich mir aneignen. UND: das muss noch nicht einmal ein geographischer Ort sein. Es gibt auch »soziale« Heimaten – auch Thomas Ebermann dürfte »die Linke« als Heimat empfinden. Und so wie man im Dorf oder Stadtteil, wo man aufgewachsen ist, nicht alle mochte und mag und nicht mit allem einverstanden war und ist, so ist das auch mit einem sozialen Ort wie »der Linken«. Heimat ist nie homogen und widerspruchsfrei.

Zu so einem identitären, widerspruchstötenden Begriff wird Heimat erst, wenn man ihn über den erfahrbaren Raum hinaus ideologisch aufbläst. Alena Dausacker:

„Es gibt im Nationalstaat weder einen gemeinsamen Raum noch gemeinsame Erfahrungen, die heimatstiftend wirken. (…) Heimat ist eng mit Identität verknüpft und beides kann der Staat nur durch Narrative herstellen. Worauf das zwangsläufig hinausläuft, ist eine aufgezwungene Homogenisierung kultureller Erfahrungen(…)“

Man denke an die »identitätstiftenden Maßnahmen« zur Einigung Deutschlands im 19. Jahrhundert. Oder an das Seehofer’sche Heimatministerium.

Es mag Leute geben, die kennen eine solche Beziehung zu einem Raum nicht. Denen »läuft nicht das Pipi in die Augen« beim Anblick heimatlicher Landschaft (so beschrieb Hella von Sinnen einmal ihre Gefühlsreaktion, wenn sie von einer Reise zurück nach Köln kommt und mit dem Zug über die Hohenzollernbrücke fahrend den Kölner Dom erblickt). Das macht ja nichts. Vielleicht haben sie nie lange genug an einem Ort gewohnt, um sich in ihm geborgen zu fühlen, oder sie haben zu viele negative Erinnerungen an diesen Ort, als dass sie Sehnsucht nach ihm haben könnten. Vielleicht fühlen sie sich in sich selbst oder auf andere Art »Zu Hause«.

Ich kenne solche Gefühle durchaus. Bleiben wir beim Kölner Dom, es gibt wahrscheinlich viele Kölner*innen, die Hella von Sinnens Gefühl teilen. Ich selber habe 13 Jahre in Köln gewohnt, aber »Pipi in den Augen« habe ich keins, wenn ich zurückkehre. Ich kenne Köln gut, aber ich kenne es nicht in seiner Tiefe, es fehlt etwas. Und zwar: die gemeinsame Entwicklung mit dem Ort. Mir fehlen die an ihm pappenden Erinnerungen aus einer anderen Zeit (aus der Kindheit). Zwar habe ich lang genug hier gelebt, um manche Orte mit starken Erinnerungen und Gefühlen zu verknüpfen, und es gibt auch ein Gefühl der Vertrautheit, aber für »Heimat« reicht es nicht. Ich stehe beispielsweise noch heute ab und an fassungslos vor der Verwüstung, die die Stadt Köln auf dem Gelände des ehemaligen AZs in Kalk angerichtet hat: Rasen und Container wo einst so viel Leben war – und ich werde melancholisch und wütend. Es ist ein Verlust. Was dort war, war auch ein Stück Zuhause. Aber Heimat?

Landschaften und Orte können eine enorme emotionale Reaktion in Menschen hervorrufen. In »Karte der Wildnis« beschreibt Robert McFarlane, wie manche Menschen Kriege und Gefangenschaft überlebten, indem sie sich gedanklich an ihre liebsten Orte – einen Berg, einen See, Wald oder Wanderweg – versetzten. Das muss nicht unbedingt die Heimat gewesen sein, aber es ist klar, dass es um kleine (Natur-)Räume und eigene Erfahrungen geht, nicht um Staaten (die ja ästhetisch nur abstrakt erfahrbar) oder Länder (die auf Grund ihrer Größe kein erfahrbarer Naturraum sind) und schon gar nicht um deren widerspruchsbefreite Totalität, als bedeute Heimat, dass man auch mit der Politik der Regierung einverstanden ist. Im Gegenteil: ich kenne viele linke Bayer*innen, die sich in ihrer Landschaft sauwohl und mit ihr und ihrer Geschichte verbunden fühlen, aber im Dauerklinch mit der herrschenden Politik und mit manchen der anderen Einwohner*innen liegen.

Ich bin selbst so eine. Mich faszinieren alle möglichen Landschaften und ich kann vor der Schönheit der Natur in die Knie gehen (und über ihre laufende Vernichtung durch die Menschheit verzweifeln), aber nirgends breitet sich in mir diese sorglose Ruhe aus wie am Ufer des Starnberger Sees, den ich mit all seinen Stimmungen kenne wie keinen, in dem ich bei jeder Wetterlage gebadet habe, dessen Geschichte und Geschichten mir vertraut sind, in dem ich schwimmen gelernt habe und dem ich als Jugendliche meine Sorgen anvertraute. All das ist präsent, wenn ich ihn heute besuche. Das gute und das schreckliche. Genau deswegen ist er Heimat – das kann der Rhein oder das Mittelmeer niemals sein, hier war ich nicht glückliches Kind und nicht deprimierte Jugendliche. Und es gesellen sich andere Erinnerungen dazu: der Geschmack von frischen Radieschen und Schnittlauch auf Butterbrot. Der Geruch der trocknenden Seekiesel und des alten Mannes, der uns in seiner Kiosk-Hütte Ed von Schleck Eis verkaufte. Der Gesang von Amseln und das Zilpen von Schwalben, die über dem Wasser Mücken fangen. Läutende Kirchenglocken. Menschen die sich »Servus« begrüßen und der Geschmack von Augustiner-Bier. Das Platschern der Wellen. Der Blick auf die Zugspitze – oder nicht, je nach Wetterlage. Natürlich gibt es all die Elemente anderswo auch, aber es gibt sie nicht so. Ihre Kombination ist immer einzigartig. Schon der Ammersee ist nur noch halb Heimat. Und der Chiemsee ist schön, aber Heimat ist er eigentlich nicht mehr, denn ich kann mich zwar verständigen und ich kenne die kulturellen Codes, aber er ist mir nicht vertraut.

Wurzeln und Flügel

Es gibt dieses ausgelutschte Sprichwort, nachdem Eltern ihren Kindern Wurzel und Flügel mitgeben sollen. Dahinter steckt die Idee, dass ein psychisch starker Mensch, der sich seiner Herkunft und seiner Geschichte bewusst ist – der also Wurzeln bekommen hat, zu denen er stehen kann – offener ist für Veränderung, leichter damit umgehen kann, sich nicht so schnell bedroht fühlt. Das sind psychologische Basisweisheiten. Und doch werden sie im politischen Handgemenge gerne übersehen. Und so wird dann im Kampf gegen »rechts« der Heimatbegriff über Bord geworfen, anstatt ihn zu differenziert zu denken. Wieso diese Denkfaulheit? Das ist zwar ganz nett, wenn man unter sich bleiben und sich dabei für möglichst radikal halten will, es führt aber nicht weiter und argumentiert am Erleben der Menschen vorbei. Bairische Linke sehen seit Jahrzehnten mit einer gewissen Stoizität über diese (nord-)deutschen Anti-Heimat-Allüren hinweg. Nirgends habe ich Anarchie und Heimatverbundenheit so schön im Einklang gesehen. Antinazi-demos mit Dirndl. Das ist Drag! Da lässt sich was zurückerorbern und umdeuten. Hier wird schon lange von links um die Deutungshoheit gekämpft: die Kritik von Achternbusch, dass, wo früher Bayern war, heute »die Welt« sei, ist gerade NICHT als ein Beharren auf lokalem Hinterwäldlertum zu verstehen, sondern als eine frühe Kritik an der gleichmachenden kapitalistischen Kultur, die alle Eigenheiten verwurstet und einen Einheitsbrei ausspuckt, um »aus Fremden Konkurrenten machen« zu können (Marianne Gronemeyer), die sich so besser ausbeuten lassen.

Es macht also Sinn, einen individuellen und auf konkreten Erfahrungen bezogenen Heimatbegriff stark zu machen, weil man so einen ideologischen Heimatbegriff aushebeln kann, der nur der Aufrechterhaltung der Herrschaft dient. Mit der Verteufelung des Heimatbegriffes gewinnt man aber keinen Blumentopf und schon gar nicht die Herzen der Menschen. Dort, wo ich eine oder auch mehrere Heimaten haben darf und kann, teile ich sie gerne mit anderen, kann ich sie gelassen kritisieren und sie in ihrer Widersprüchlichkeit anerkennen. Da, wo man sie mir wegnehmen will oder abspricht, werde ich sie gegen diese Angriffe verteidigen und zunächst für mich behalten wollen. Womit sich dann linke Heimatkritiker*innen darin bestätigt fühlen, dass Heimatverbundenheit zu Fremdenhass und Kleingeistigkeit führt und man sie umso mehr bekämpfen muss, was auf der anderen Seite zu umso verstärkten Verteidigungsaktivitäten und Verlustängsten führt. Was für ein Theater!

Um mit Alena Dausacker zu enden:

»Habt eure Heimaten, wo ihr wollt. Wechselt sie, spielt mit ihnen, fasst sie so groß oder  klein, wie ihr wollt. Aber seid Euch dessen bewusst, dass Heimaten euch allein gehören, denn jed*r hat eine eigene.« (oder mehrere)

Woher kommt wohl all der Hass. Kommentar zu Wahl.

In den Reaktionen auf die Europa- und Kommunalwahlen mischen sich Ratlosigkeit, Entsetzen und Hysterie über einen (vermeintlichen) Wahlerfolg rechtsextremer Parteien mit Hohn, Spott und Verachtung für die Dummköpfe und bösen Menschen, die solche Parteien wählen. Und dann immer wieder diese Frage: Woher kommt all der Hass?

Echt jetzt Leute? Woher kommt wohl all der Hass? Strengen wir mal unsere grauen Zellen an. Lesen wir ein bisschen zeitgenössiche Literatur oder ein paar Klassiker des Marxismus. Was die französische Situation angeht, so hat Didier Eribon in «Rückkehr nach Reims« alles notwendige dazu gesagt. Auch Eduard Louis‘ »Wer hat meinen Vater umgebracht?« zeichnet ein realistisches und vielsagendes Bild der Misere. Jahrzehnte einer Politik der Verachtung gegenüber den Armen, Ausgegrenzten, Abgehängten. Jahrzehnte der Kürzungen im Sozialbereich, Jahrzehnte, in denen die Löhne nicht stiegen während der Reichtum der Reichen ins Unermessliche wuchs und angeblich linke Regierungen dem nichts entgegensetzten oder es sogar noch befeuerten. Und Jahrzehnte, in denen die radikale Linke immer weniger dazu zu sagen hatte. In der sie mit ihren alten Antworten keinen Blumentopf mehr gewann, sich auf Metropolenpolitik, interne Grabenkämpfe und Diskurse über Sprachreinheit erging. Jahrzehnte auch der Verblödung. Unterdrückung macht ja nicht automatisch schlau. Die Konsumkultur vernebelt die Hirne. Schon Marx schriebe über die »Klasse an sich« und die »Klasse für sich«. Ja genau, Arbeiter*innen können sich horndoof verhalten, ihre objektiven Interessen nicht erkennen und Faschisten wählen. Alles nix Neues. Die Stärke der Rechten war schon immer die Schwäche der Linken.

Über die Situation in Großbritannien kann man ganz ähnliches sagen. Die Dynamik, die dabei eine Rolle spielt, hat Laurie Penny ziemlich schön in Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution. beschrieben: Männer, zumal weisse, denen kulturell vermittelt wird, dass sie zu den Siegern, zu den Privilegierten gehören, stellen fest, dass das nicht mehr so ist. Dass ihnen die Felle davon schwimmen, dass die Welt ihnen nicht gehört – sondern nur ihren reichen Brüdern. Dass das eine enorme Kränkung ist, hat Penny verstanden und sehr exakt analysiert. Es ist diese Kränkung der gesellschaftlichen Deklassierung, die sie rechts wählen lässt, weil sie sich von diesen Parteien die Re-etablierung eines Status erhoffen, von dem sie denken/fühlen, dass er ihnen zusteht. Und das ist ja auch das Programm der Rechten – bis zu einem bestimmten Punkt, denn tatsächlich kümmern sich auch diese mehr um reiche weisse Männer als um arme.

Und Deutschland? Hier geht es vor Allem um den Osten (und andere strukturschwache Gebiete). Das besondere an der ostdeutschen Situation ist, dass die oben beschrieben Kränkung auf Grund der Kolonisierung der ehemaligen DDR durch die BRD hier noch viel stärker zutrifft. Die wütenden weißen Männer des Ostens wurden kolonisiert, und zwar von ihresgleichen aus dem Westen, während ihnen gleichzeitig versprochen wurde, ab jetzt würde alles ganz toll. Doch ihre Erfahrungen, ihre kulturellen Gewohnheiten, ihre Lebenszusammenhänge wurden abgewertet und zerstört. Und diese weissen Männer waren es, anders als Frauen, PoCs oder Jüd*innen, nicht gewohnt, so abgewertet zu werden. Für sie ist diese Situation neu und es gibt auch keine Sprache dafür, kein Sprechen darüber. Schlimmer noch, da im bundesdeutschen Diskurs die Enteignung des Ostens durch den Westen nicht als solche und somit als Unrecht anerkannt wird, und fortwährend über eine Priveligierung weißer Männer im Allgemeinen gesprochen wird ohne auf diese inner-weiß-männlich-deutsche Geschichte einzugehen, bricht sich diese Ohnmachts-erfahrung Bahn in Hass. Eine labile Identität fühlt sich von allem bedroht. Im Rahmen des Migrationssommers wurde über die Stabilität der bairischen Identität gesprochen, die die Hilfsbereitschaft und Gelassenheit der Baiern im Umgang mit der Migrationsbewegung miterklärte (und man sollte die Äußerungen bairischer CSU-Politiker nicht mit der Stimmung unter den Leuten verwechseln! Die Stimmung war und ist tatsächlich weitgehend eine andere als die Politik, die sich selbst von der AfD treiben lässt, kolportiert).

HEIM@T

Baier*innen, egal wie verlacht vom Rest der Republik, sind gerne Baier*innen. Dass Bayern nicht so schlecht sein kann, wird ihnen auch von den Tausenden »preisischen Zu’zognen« bestätigt. Mit einem solchen Ego kann man in Sachsen und Brandenburg nicht aufwarten. Hier ist die Identität durch die Wiedervereinigungskolonisierung zerstört. Neben der wirtschaftlichen gibt es eine soziale Misere. Niemand zieht hierhin, weil es so schön ist, Italien so nah, die Seen so blau und die Biergärten so gemütlich. Vielmehr ziehen alle weg, die Städte sind leer, die Jugend hat keine Zukunft, die DDR ist diskreditiert, man darf nicht mal darüber sprechen, dass vielleicht nicht alles schlecht war am realexistierenden Sozialismus. Diese Leute sind gekränkt und gedemütigt worden, ihre Erfahrungen wurden ihnen abgesprochen und gleichzeitig wurden sie noch mit Hohn überzogen (allen voran: Titanic) für ihr angebliches Hinterwäldlertum. Mit ihnen hat kaum wer gesprochen, über sie wurde um so mehr gelacht. Gefragt wurde erst, als sie anfingen, eine laut brüllende hässliche Fratze zu zeigen. (Vor diesem Hintergrund halte ich es für eine weitere ausgesprochene linke Dummheit, den Begriff »Heimat« zu nazifizieren, wie es Ebermann und co machen. Man schießt sich damit selbst ins aus und wird unfähig, manche Dynamiken überhaupt zu begreifen vor lauter ideologischer Verblendung. Als bekennende Baierin kann ich sagen: Heimat kann was ganz tolles sein und lässt sich mit Linksradikalismus exzellent vereinbaren. Fragt mal bairische Genossinnen.)

Es ist noch kein Nazi vom Himmel gefallen.

Zurück zu unseren verächtlich so genannten Wutbürgern: diese Erfahrungen sind natürlich kein Grund, Nazi zu werden. Wenn man aber eingesteht, dass Kolonialismus und Klassismus keine Bildungseinrichtungen sind, sondern Unterdrückungsregime, weiß man auch, dass diskriminierte nicht automatisch klug sind. Im Prinzip könnten ostdeutsche, französische und britische (und andere) Männer (und Frauen) ja verstehen, dass der Feind nicht »Europa«, »Flüchtlinge« oder »Genderwahn« heißt, sondern Kapitalismus oder meinetwegen Billionäre, die Regierung oder Großkonzerne, die unser aller Lebensgrundlagen vernichten. Dass also Ossis und Geflüchtete gemeinsame Sache machen müssten, da es die gleichen Organisationen und Individuen sind, die in Sachsen, Bangladesh (oder Nordengland) Landstriche verwüsten und Leute in Lohnsklaverei unter beschissenen Bedingungen drücken – ob nun in einer von Einsturz bedrohten Näherei, im Amazonlager oder bei Uber. Dass sie also begreifen, dass der Angriff ein Klassenkrieg von oben ist, dem man von unten etwas entgegensetzen muss. Doch schon vor 150 Jahren haben die Verdammten der Erde ihr Los nicht unbedingt als geteiltes erkannt. Die Klasse muss sich erst selbst erkennen (wo war das noch bei Marx?). Hier kommt die Geschlechtlichkeit erschwerend hinzu, denn heterosexuelle weiße Cis-Männer stellen fest, dass ihr Platz nun nicht mehr automatisch über allen anderen ist, sondern neben und zwischen ihnen. Aua. Damit haben sie keine Erfahrung und drüber reden haben sie auch nicht gelernt. Es tut weh, aber der Zugang zur Trauer ist emotional und kulturell versperrt. (Welche Verheerungen es anrichtet, wenn man etwas nicht betrauern kann, weil es moralisch als verwerflich gilt, haben die Mitscherlichs in »Die Unfähigkeit zu trauern« über die Nachkriegsdeutschen beschrieben, die den Verlust ihres Führers nicht betrauern »durften«, was psychodynamisch gesellschaftlich eher nachteilig war.) Und so ergehen sich die deklassierten Männer in blinder Zerstörungswut, in der Hoffnung, sich so ihren angestammten Platz wiederholen zu können. Das das ein verlorener Posten sein könnte, ahnen sie, und umso schlimmer wird die Wut.

Diese toxische Männlichkeit findet man im Übrigen auch bei den Faschos anderer Couleur, wie den Islamisten oder den türkischen Erdogan-fans. Traditionelle Männlichkeit und Männer fühlen sich von allen Seiten bedroht und schlagen aus. Diese hysterischen Macht-Männer überall sind doch geradezu auffällig. Sie würden lieber die Welt in den Abgrund stürzen, als ihre Macht abgeben. Die großen wie die kleinen.

Was ich nicht begreife, ist, warum das nicht verhandelt wird. Warum wir darüber nicht diskutieren. Es ist so viel einfacher, z.B. Ossi-bashing zu betreiben und sich selbst in seinem Gutmenschentum zu bestätigen, indem man die anderen zu unbelehrbaren Rassisten erklärt, deren Hass unverständlich und unbegründet ist. Etwas zu verstehen, heißt ja nicht, es gut zu heißen oder zu rechtfertigen. Aber etwas zu verstehen ist die Voraussetzung dafür, dass man es verändern kann. 30 Jahre Ostbashing haben nix verbessert. Da könnte man doch glatt über eine Strategieänderung nachdenken, oder?

Die Abwehr dieser die Selbstgewissheit erschütternden Erkenntnis kommt oft in Form des Ausrufs, dass Zuhören ja wohl auch nichts bringt, als Beispiel wird dann die akzeptierende Jugendarbeit mit Nazis oder die nach rechts kippende Politik im Nahmen der »Sorgen der einfachen Leute« genannt. Stimmt. Das ist beides eine ganz fatal missverstandene Umsetzung des Konzeptes »Zuhören«. Nichts lässt den Hass im Herzen der Menschen so sehr nachlassen wie das Gefühl, gehört und gesehen zu werden. Das ist aber unbedingt und genau NICHT gleichbedeutend mit dem Akzeptieren von Meinungen auf der Positionsebene. Zuhören will gelernt sein, nicht umsonst wird diesem Aspekt in Mediationsausbildungen viel Zeit gewidmet. Aktiv zuhören, empathisch zuhören, das bedeutet, den eigenen Geist leer zu machen, sich ganz auf den anderen zu konzentrieren und ihm dabei zu helfen, zu ergründen, worum es ihm wirklich geht. Erst auf der dahinterliegenden Ebene (Mediation: Phase 3, Gefühl- und Bedürfnisebene, Voraussetzung für Phase 4, die Lösungsverhandlung) tritt das zu Tage, was dann Grundlage zur Erarbeitung von nachhaltigen und echten Lösungen ist. Das ist etwas völlig anderes und sogar das Gegenteil von der Behauptung des Zuhörens, wenn man angeblich umsetzt was aggressiv auftretende Demonstrant*innen vermeintlich wollen.

Ganz zum Schluss noch eine Sache zum Thema Wahl: seit wann sind 20% eine Mehrheit? Fällt irgendwem auf, dass seit geraumer Zeit kaum eine Wahl noch zu einer wirklichen Mehrheit einer Partei gegenüber einer anderen führt? Als die CSU noch 65% holte, konnte man von echter Mehrheit sprechen (auch wenn 65% der Wähler*innen bei einer Wahlbeteiligung von sagen wir 70% der Wahlberechtigten de facto eine Minderheit der Gesamt-bevölkerung sind). Doch wenn 20% jemanden wählen, dann haben immerhin 80% denjenigen NICHT gewählt und das ist doch eine recht deutliche Mehrheit! (Die Wahlbeteiligung mal bei Seite gelassen).

Ohne Hoffnung das Richtige tun. Beitrag in: Was wird aus der Hoffnung? (Psychosozial Verlag)

Ich durfte an einem im Juni erscheinenden Sammelband zur Hoffnung mitwirken.

Michaela Fink, Jonas Metzger, Anne Zulauf (Hg.)
Was wird aus der Hoffnung?
Interdisziplinäre Denkanstöße für neue Formen des Miteinanders
ca. 350 Seiten · Broschur · 39,90 € (D) · 41,10 € (A)
ISBN 978-3-8379-2932-4 · ISBN E-Book 978-3-8379-7630-4

In meinem Beitrag »Ohne Hoffnung das Richtige tun. Eine häretische Schrift« stelle ich der Hoffnung das Vertrauen gegenüber und schlage vor, die Hoffnung ad acta zu legen, da sie uns daran hindert, das richtige zu tun. Dabei beziehe ich mich auf Donna Harraway, Marianne Gronemeyer, Klaus Neubeck, François Julien, die chinesische Philosophie und die Naturweinbewegung.

Ich bin auch schon sehr gespannt auf die anderen Beiträge von Jörn Ahrens, Hans Bartosch, Daniela Dohr, Michaela Fink, Marianne Gronemeyer, Andreas Heller, Bernhard Heindl, Jürgen Hornschuh, Charlotte Jurk, Thile Kerkovius, Andreas Krebs, Philipp Kumria, Andreas Langenohl, Henning Melber, Jonas Metzger, Rosa Namises, Andrea Newerla, Burkhard Plemper, Sabine Richter, Matthias Rompel, Verena Rothe, Jürgen Schraten, Oliver Schultz, Franz Tutzer, Kirstin Vogler, Hans Friedrich Vogt, Cornelia Wilß, Anne Zulauf und mit einem Grußwort von David Gronemeyer.

Identity crisis: No Jacko no monster

Nun wird anlässlich neuer Missbrauchs-anschuldigungen gegenüber Michael Jackson wieder diskutiert, ob man denn die Kunst von solchen »Monstern« noch genießen kann.

Ein schönes Beispiel für den sich ständig wiederholenden Vorgang stigmatisierender und verurteilender Identitätszuweisungen bei »Delinquent*innen«. Ich habe es in »Strafe und Alternativen« geschrieben, und ich sage es hier noch einmal: Niemand ist nur Mörder, Diebin, Vergewaltiger, Betrügerin, wie niemand nur Skifahrer, Dichterin, Lehrer, Ingenieurin, Hundebesitzer oder Touristin ist. Wir haben alle viele Identitätsanteile, deren Gewichtung und Ausprägung sich überdies während unseres Lebens verändert. Niemand möchte auf einen dieser Teile reduziert werden. Und niemand kann auf einen dieser Teile reduziert werden. Monster gibt es nicht, nur monströses Verhalten.

Kann man also Michael Jacksons Musik verehren und gleichzeitig entsetzt sein über sein Verhalten? Man kann!

Die Menschheit wird so lange auf der Stelle treten, wie sie es nicht schafft, von diesen Identitätszuweisungen und dem ganzen damit verbundenen statischen Denken abzusehen und sich eine den Widersprüchen der Realität und ihren Dynamiken gerecht werdende Denkweise zuzulegen. Fangen wir an. Versuchen wir, die Genialität von MJs Musik anzuerkennen, die Songs zu lieben und gleichzeitig Schmerz über sein Verhalten und Mitgefühl für die Betroffenen zu empfinden.  Fangen wir an, statt Hysterie und plakativem Getöne etwas Komplexität in unsere Betrachtungen zu bringen.

Naturheilkunde. Der Denkfehler liegt (meist) bei denen, die sie beruteilen.

Zur Kontroverse über Homöopathie in der »TAZ«

Der Artikel »Das weiße Nichts« in der TAZ hat mal wieder zu einem heftigen Streit über die Wirksamkeit von Homöopathie geführt. Sie beruhe auf einem Denkfehler, heißt es. Ob der Denkfehler nicht eher bei jenen liegt, die hier etwas beurteilen? Da ich in letzter Zeit immer wieder mitbekomme, wie Linke sich für besonders schlau und fortschrittlich halten, wenn sie am besten gleich alle alternativmedizinischen Methoden für »Esoterik« erklären, hier ein Kommentar.

Zunächst mal: es geht mir wahnsinnig auf die Nerven, wenn Leute von Wirsamkeit oder Nicht-wirksamkeit schwadronieren, ohne dabei entweder im entsprechenden Fachgebiet versiert zu sein NOCH eigene Erfahrungen zu haben. Manche Sachen muss man am eigenen Leib erleben, um sie zu verstehen.

Das erste Problem bei der westlich-herkömmlichen Beurteilung alternativer Heilmethoden ist die prinzipiell andere Betrachtungsweise. Die okzidentale Schulmedizin ist die einzige Heilmethode, die nach dem Autowerkstatt-verfahren vorgeht: Ein Teil ist kaputt, wir reparieren oder ersetzen es. Es ist eine auf dem cartesianischen Weltbild beruhende Methode, die nicht den ganzen Zusammenhang, sondern nur das Einzelteil betrachtet. So werden dann Symptome behandelt und höchstens noch Auslöser gesucht, aber an die Frage nach den Ursachen kommt man nicht ran. Ein Beispiel: Ich hatte als Jugendliche urplötzlich entzündete Zehennägel. Erst links, dann rechts, dann wieder links. Über Jahre. Es kam plötzlich, war sommers wie winters da, hatte nichts mit Schuhen oder anderen Lebensgewohnheiten zu tun. Die Ärzte schnitten die Eiterungen auf, empfahlen Salben usw. Warum aber mein Körper entschied, die Zehennagelbetten zu entzünden, werde ich bis heute nicht wissen. Irgendwann hörte er damit auf und es ist bis heute nie wieder passiert.
Naturheilkunde, wenn sie gut ist, stellt sich die Frage nach dem woher. Wie kommt das? Womit hat das zu tun? Was drückt sich aus? Naturheilkunde sieht den Menschen als Ganzes. Körper, Geist, Seele. Für die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und die meisten anderen Heilkunden gibt es nichts absurderes als die Idee, Körper und Geist sowie einzelne Teile davon getrennt zu betrachten und sich nur um die örtlichen Syptome zu kümmern. Genau das passiert aber tagtäglich in Arztpraxen. Und die meisten Leute landen deswegen irgendwann bei naturheilkundlichen Methoden. Wobei Methode auch wieder das falsche Wort ist: man kann das nicht anwenden wie man ein Antibiotikum verschreibt. Dahinter steckt eine völlig andere Haltung und ein anderes Verständnis der Welt. Was wiederum ein Grund ist, warum die besten HPs keine Ärzt*innen sind und Ärzt*innen oft keine guten Anwender*innen von HP-Verfahren.

Zurück zur Homöopathie, um die es in dem streitbaren Artikel geht.
Meine Erfahrung mit Homöopathie ist die gleiche wie mit anderen naturheilkundlichen (und schulmedizinischen!) Verfahren: sie wirken nicht bei jedem Individuum und in jeder Lebensphase gleich. Der oder die Behandelnde muss zu mir in jenem Moment passen (weil es viel darum geht, über Einfühlung auf die richtige Fährte zu gelangen). Das macht die Sache nicht leichter, erklärt aber manches Scheitern. Hier sehen wir Denkfehler Nr 1, nämlich, dass alles bei allen gleich »anschlagen«  muss. Das ist ja nicht mal bei Pharmazeutika der Fall, und da weiß auch keiner warum’s mal hilft und mal nicht. Den Standardkörper, den die Schulmedizin gerne hätte, gibt es so nicht (und er wird übrigens nach wie vor als männlicher vorgestellt). Es ist einer ihrer Hauptfehler, dass sie für Individualität blind ist.
In dem Artikel gibt die Ärztin, um die es geht, die Homöopathie auf, weil sie sich nicht mehr sicher ist, ob sie wirklich hilft. Schließlich erinnere man sich ja nur an die Patient*innen, bei denen es gelungen sei. Was mit denen ist, die wegbleiben, wisse man ja nicht. Ähem. Also, das ist ja nun das gleiche bei allen Ärzt*innen. Ich bin auch schon oft weggeblieben, weil mir der Ansatz nicht zugesagt hat oder ich die Ärzt*in unsympathisch fand oder ich den Eindruck hatte, es hilft mir nicht. Das stellt aber nicht das Verfahren insgesamt in Frage. Es passte mir zu dem Zeitpunkt nicht. Anderen mag geholfen werden. Ich finde es aber richtig und verantwortungsvoll, dass die Ärztin ein Verfahren aufgibt, hinter dem sie nicht mehr steht. Es wäre wünschenswert, sie würde alle Verfahren und Präparate, die sie anwendet, der gleichen strengen Beurteilung unterziehen…

Ich bin mit der klassischen Homöopathie aufgewachsen und ich muss sagen, dass ich bis heute vom Anamnesebogen beeindruckt bin. Das sind mehrere Seiten äußerst detaillierter Fragen, weil die Mittel sich je nach Seitenaspekten sehr unterscheiden. Das ist die schwierige Aufgabe einer Homöopathin oder eines Homöopathen, (und hier kommen Einfühlungsvermögen und Sympathie ins Spiel). Wenn sich Ärzt*innen ähnlich viel Mühe geben würden, könnten sie mglw. wesentlich besser heilen, als sie das tun. Das ist auch eine Kostenfrage, aber das ist ein anderes Thema. Meine Lieblingsmethode ist Homöopathie allerdings nicht. Ich bevorzuge andere Naturheilverfahren. Das variiert je nachdem, worum es geht und was ich brauche.

Abgesehen von Anamnesebögen: jede*r vernünftige Heilpraktiker*in schickt dich zum Abklären zur Ärzt*in. Das wird so eigentlich auch in der HP-Ausbildung gelehrt. (Was nicht heißt, dass die das (richtig) tun. Das Beispiel im TAZ Artikel zeigt es und meine eigenen Erfahrungen mit Ärzt*innen bestätigt, dass man sie manchmal geradezu zwingen muss, eine echte Anamnese zu machen. »Ich sehe nichts« habe ich von einigen HNO-Ärzt*innen gehört, obwohl ich starke Atemwegsbeschwerden hatte, oder auch: »Sie haben nichts.« Nachforschen wollte bis jetzt keine*r und so lebe ich weiter mit meinen Symptomen. Nach 4 Versuchen habe ich die Schnauze voll von HNO-ler*innen.) Man muss ja schließlich wissen, was los ist, um weiterzudenken und behandeln zu können. Und dass die Apparaturen der Schulmedizin für genauere Erkenntnisse darüber, was wie krank ist, überaus hilfreich sein können, bezweifelt niemand. Es gibt also, das wissen wir alle, gute und schlechte Ärzt*innen. Genauso gibt es gute und schlechte Heilpraktiker*innen. Oder sagen wir besser: gewissenhaft und schlampig arbeitende HPs und Ärzt*innen. Denn manchmal weiß eine halt nicht weiter oder kommt nicht auf die richtige Idee. Oder die »Chemie« zwischen Behandelten und Behandelnden stimmt eben nicht.

Meine Erfahrung ist, dass das derzeitige Finanzierungsmodell unseres Gesundheitssystems aus Ärzt*innen eigentlich systematisch schlechte Ärzt*innen macht und sie sich, wenn sie das nicht wollen, aktiv gegen diese Tendenz wehren müssen. Sie dürfen sich ja qua Abrechnungsvorschriften gar nicht die Zeit nehmen, die es bräuchte, um wirkliche Anamnese zu betreiben. Sie werden von der Pharma-industrie systematisch indoktriniert (die berühmten Vertreter*innen, die regelmäßig in den Praxen vorbeischauen. Man erkennt das dann daran, dass plötzlich bestimmte Medikamente in einer Praxis Konjunktur haben). Ihre Ausbildung legt ihnen nicht Demut gegenüber den Erfahrungen der Patien*innen mit ihrem eigenen Körper, sondern Arroganz auf Grund ihrer vermeintlichen Allwissenheit nahe. Dazu kommt die Profitorientierung. Viele Ärzt*innen wollen zu den Topverdiener*innen gehören. All das verhindert Heilen.

Das ist bei HPs anders. Weder legt ihnen ihre Ausbildung nahe, »alles besser zu wissen« als die Patient*in, vielmehr geht es um Begleitung und um gemeinsames Forschen. Noch erwarten HPs, von ihrem Beruf reich zu werden. (Übrigens, die meisten Leute in meiner Abi-klasse, die Ärzt*innen werden wollten, waren nicht gerade Empathiegranaten, und ihre Motivation war Prestige und Geld, nicht Hilfe oder Sorge um den Nächsten… Viele wurden Ärzt*innen, weil ihre Eltern Ärzt*innen waren. Zu keiner davon würde ich als Patientin gehen wollen!) HPs werden anders (aber nicht besser!) bezahlt und können sich die Zeit nehmen, Zeit ist oft sogar einer der wichtigsten Komponenten. Im Wartezimmer von HPs stapeln sich keine Patient*innen. Gespräche und Behandlungen dauern. Es wird nicht im Minutentakt abgefertigt. All diese Komponenten zählen.

Siehste, sagen dann die Skeptiker*innen, es sind gar nicht die Methoden, es ist einfach die Zeit und die Zuwendung. Und hier liegt quasi der zweite Denkfehler. Wer wollte das denn trennen? Wie kann man das auseinander denken? Sich Zeit nehmen, heißt auch, genauer sein zu können. Auch pharmazeutisch und technisch induzierte Heilprozesse sind von Zuwendung und Aufmerksamkeit abhängig. Wir sind lebendige Individuen und reagieren mit unserem ganzen Wesen auf das, was mit uns geschieht, sei es Akkupunktur, eine Chemotherapie oder ein Heilfastenprogramm. Naturheilkunde zielt immer auf die Veränderung des ganzen Menschen, weil sie das Symptom ja nicht als reparaturbedürftiges Einzelteil sondern als Ausdruck eines Problems im System sieht. Also muss man auf das ganze System eingehen, und dazu gehört Zuwendung, Gespräche, mglw. zusätzliche Umstellung von Ernährungsgewohnheiten oder Lebensstiländerungen.

Genau weil Naturheilkunde nicht so funktioniert, dass man sich »was reparieren lässt« und sonst weitermacht wie bisher, ist es unmöglich, sie mit cartesianischen Parametern (wir isolieren einen Vorgang und schauen ob er funktioniert) zu beurteilen. Das ist halt auch der Punkt mit diesen Homöopathie-tests. Eine Massen-mittelvergabe ohne genaueres Eingehen auf den Menschen und ohne Detailanamnese ist völlig widersinnig. Natürlich funktioniert das nicht. Das habe ich schon oben zum Thema Individualität geschrieben. Und das sagen die Homöopath*innen selber: wenn es nicht das richtige Mittel ist, passiert – nichts! Sprich, du kannst dich auch nicht vergiften. Manchmal braucht es eine Abfolge verschiedener Mittel, damit die Wirkung offenbar wird. Das ist für unser mechanistisches Weltbild schwer zu begreifen.

Es ist dieses Weltbild, das ein Problem ist. Es hat uns Aspirin und Penicillin gebracht, aber auch Glyphosat und Atomkraft. Ironischerweise ist es auch die Atomphysik, die begreift, dass es jene »feinstofflichen« Zusammenhänge und Wirkweisen gibt, von denen naturheilkundliche Verfahren seit jeher wissen, die aber von so vielen hyper-materialistischen Linken immer noch belächelt und als (faschistische) Esoterik bekämpft werden. Es ist allerhöchste Zeit, zu akzeptieren, dass auch das seit der Neuzeit geltende materialistisch-schulmedizinische Weltbild nur eine Möglichkeit ist, die Welt zu interpretieren und dass nichts darauf hinweist, dass diese Interpretation die einzige bzw. richtiger ist als andere. Das wollen wir nicht akzeptieren, weil wir so gerne glauben wollen, dass unsere Wissenschaft gegenüber »primitiven« Erklärungsmodellen überlegen ist. Wir müssen aber feststellen, dass sie auch nur das erklären kann, was sie aus ihrem Blickwinkel überhaupt zu betrachten in der Lage ist, und dann beeinflussen wir auch noch das Ergebnis. Heisenberg lässt grüßen. Und das ist zudem nur ein Teil der Realität, die wir als begrenzte Wesen ohnehin niemals werden ganz erfassen können. Mithin ist das Problem ein Mangel an Demut und Einsicht darin, dass wir wenig wissen und viel glauben. Und dass wir als unterschiedliche Wesen unterschiedliche Erfahrungen machen, und mit unseren unterschiedlichen Erfahrungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

Seit einiger Zeit gehe ich zu einer Heilpraktikerin, die Somatic Experiencing macht. Wollte man eine*r HP-Skeptiker*in erklären, was diese Frau mit mir macht, man hätte seine Mühe. Es ist eine sehr sanfte und sehr subtile Methode der Körpertherapie. Und umso unglaublich viel wirkungsvoller. Empfohlen hat sie mir eine Frau, die nach einer Schwerst-mehrfachtraumatisierung nicht mehr schlafen konnte. Alle Therapien nutzten nichts. Sie gab mir die Telefonnumer mit den Worten: »Diese Frau hat gemacht, dass ich wieder schlafen kann.« Was soll ich sagen? Dieser Frau verdanke ich, dass ich bereits 2 Wochen nach einem schweren Schock (Lebensgefahr) wieder munter auf den Beinen war und das Erlebte heute als eine normale, wenn auch unschöne, aber nicht belastende Erinnerung abgespeichert habe. In der Traumaforschung gilt SE als eine der effektivsten und sanftesten Methoden. Und wie so oft bei Naturheilkunde: solange die Heilpraktiker*in gewissenhaft und gut arbeitet, ist es so gut wie ausgeschlossen, dass man sich damit schädigen kann. Im schlimmsten Fall hilft es einfach nicht. Aber man wird nicht krank davon. Das kann die Schulmedizin mit ihren Psychopharmaka nicht von sich behaupten. Ich gehe immer noch zu dieser Frau. Vom ursprünglichen Grund sind wir abgekommen, weitere Ebenen haben sich aufgetan und als Seiten-heilerfolg sind meine Periodenschmerzen verschwunden. Ich empfehle sie ab und zu weiter. Und wie es immer so ist: die einen sind begeistert, anderen bringt es nichts. Völlig normal. Jeder Mensch ist anders, jeder Mensch braucht etwas anderes, und niemand immer das gleiche während seines ganzen Lebens.

Naturheilkunde vermag auf diese Einzigartigkeit, die Vielfalt und die permanente Entwicklung von uns Menschen wesentlich besser einzugehen als die Schema-F-Vorgehensweise der Schulmedizin. Deswegen ist es auch nicht schlimm sondern normal, wenn es Patient*innen gibt, die nicht wiederkommen, denen man nicht helfen kann. Besser, damit ehrlich und offen umzugehen, als sich und den anderen in die Tasche zu lügen und weiterzumachen, obwohl man nicht weiter weiß.

Schließlich noch eine Sache: niemand ist gezwungen, naturheilkundliche Verfahren anzuwenden. Bleibt bei der Schulmedizin, wenn ihr den Eindruck habt, dass sie euch hilft. Entscheidet selbst, aber trefft eure Entscheidungen bitte auch informiert. Seid mündige Patient*innen. Hört auf euren Körper und wechselt Ärzt*in, Heilpraktiker*in oder Behandlungsart, wenn ihr merkt, es passt nicht. Das Tragische an dem Beispiel aus dem TAZ-Artikel ist doch, dass die Frau so wenig auf ihre Körper hört und das heftige Symptom der andauernden Blutungen übergeht, weil sie blind auf die vermeintliche Expertise der Ärztin vertraut (die noch dazu einfach keine vernünftige Anamnese macht und die Frau von oben herab behandelt. Das hat nichts mit Homöopathie zu tun, das ist einfach schlechte Praxis. Im Gegenteil, klassische Homöopathie macht die genauste Anamnese, die ich je gesehen habe. Also schlechte Ärztin UND schlechte Homöopathin. Davor ist man nie gefeit. Es gibt keine Garantien und keine Perfektion. Keine Kontrolle und kein Auswahlverfahren der Welt kann das ändern. Aber man kann bessere Bedingungen für das Heilen schaffen. Das ist Gesellschaftspolitik!)

Also, macht was ihr wollt, aber passt auf euch auf. Und schreibt mir nicht vor, was bei mir wirkt und was nicht, oder was ich anwenden darf und was nicht. Ich lass euch ja auch eure Chemie.

8. März International women’s strike

Am 8. März streike ich. Keine Mails, keine Posts, keine Anrufe. Keine Kümmerei und keine Checkerei für irgendwas. Wenn es schön wird, geh ich an den See. Punkt.
Für die Anerkennung weiblicher Arbeit. Für gleiche Bezahlung. Raus aus der Prekarität. Gegen Patriarchat, Kapitalismus und human supremacy. #womenstrike #8märz #feminismus

Bildergebnis für internationaler frauenstreik

Bericht aus dem Land der Gelben Westen

Seit 3 Jahren verbringe ich einen großen Teil meiner Lebenszeit in Südfrankreich bei meinem Freund. Ich habe die Wahl mitverfolgt und die erste Zeit der Regentschaft von Marcon, die Aufstände und Blockaden diesen Frühling und vor allem, diese offensichtliche und tiefsitzende Verachtung der Regierungskaste (alles Absolvent*innen der ENA, der Elite-Verwaltungsschule) sowie ihre völlige Entkoppelung von der Realität der Leute und die manchmal geradezu irritierende Kurzsichtigkeit und Stumpfsinnigkeit ihrer Politik.

Ein Beispiel: Der Streik der Eisenbahner*innen diesen Frühling begann anlässlich einer angekündigten Reform und Vollprivatisierung der staatlichen Bahn SNCF. Nicht nur sollten die Eisenbahner*innen einen Teil ihrer erkämpften Lohnvorteile verlieren, nein: 1/3 aller lokalen Züge wird eingestellt. Jetzt schon sind die Regionalverbindungen teuer, selten und schlecht organisiert. Das Argument von Macron war: die Leute haben doch eh alle ein Auto. (Ja, seit man ihnen die örtlichen Schulen, Postämter, Krankenstationen etc einstampft und riesige Shoppingcentren vor den Toren der Städte und Dörfer entstehen, während die Dorfzentren sich leeren, MÜSSEN ja alle ein Auto haben). Nun kommt er uns mit: Autofahren ist doof für das Klima, deswegen machen wir es richtig teuer. Eine erste Reaktion auf die Proteste war dann, anzubieten, die Fahrschulen wieder günstiger zu machen. Ja was denn nun? Der Mangel an Logik kann einen in den Wahnsinn treiben!

Oder: Beginn des Jahres erklärt er den Rentner*innen, sie müssten eine Extra-streuer bezahlen, damit man den jungen Arbeitslosen und Berufsanfänger*innen helfen könne. Kein Jahr später wird eine neue Lohnsteuer eingeführt, unter anderem mit dem Argument, die Arbeitenden müssten den Rentner*innen helfen. Hä?

Das sind nur zwei Beispiele. So geht es in einem fort. Die Benzinsteuererhöhung sollte unter Anderem durch Kompensationszahlungen für Arme abgefedert werden, nachdem diese anfingen zu protestieren. Es ist zum Haareraufen blöde.

Macron ist ein selbstherrliches Arschloch, der noch nicht mal die Prozentrechnung richtig versteht (obwohl Banker), sonst hätte er neulich nicht gefragt, warum ihn denn alle gewählt hätten, wenn sie jetzt so gegen ihn sind. Mal abgesehen davon, dass er keine Wahlversprechen eingehalten hat und seit Tag Null alle übers Kreuz legt, die Leute also auch einen Grund haben, ihre Meinung zu ändern, haben ihn mitnichten alle gewählt. Die Wahlbeteiligung war die niedrigste der fünften Republik, und aus gutem Grund.
Im ersten Durchgang hatten alle Kandidat*innen um die 20%, die Unterschiede waren im einstelligen Bereich, es war sehr knapp. Im zweiten Durchlauf haben die meisten ihn gewählt, um Le Pen zu verhindern. Damals ging ein Satz durch die sozialen Medien: Late Capitalism – wenn man die Wahl hat zwischen einer Faschistin und einem Investmentbanker.
Seine Politik unterstützen vlt 20% der Wähler*innen. Bei einer Wahlbeteiligung von kaum mehr als 50% und der Menge an Einwohner*innen ohne Wahlberechtigung (u.a. alle die im Gefängnis sind oder waren) macht das höchstens 10% der Bevölkerung, die seinen Müll gut fanden. Das passt zu den Umfragen, wonach 85% der Französ*innen hinter den «Gilets Jaunes» stehen.

Und ich kann sie verstehen. Man kann dieser Regierung nur noch Hass entgegenbringen. Wenn ihr wüsstet! Gesetzte werden seit Tag 1 im Schnellverfahren durchgepeitscht, keine demokratische Debatte mehr möglich. Der Ausnahmezustand wurde in den Normalzustand überführt. Es hagelt Verbote, Steuern und antisoziale Reformen täglich. Und dann sowas: Angebot der Regierung an die aufständischen Gelbwesten: Kondome „made in France“ sollen kostenfrei werden, wenn man sich ein Rezept beim Arzt holt. Ein Arztbesuch „kostet“ irgendwas um die 10€ Praxisgebühr, eine Packung Kondome ist erheblich günstiger, auch die „made in France“. Wie garstig: Die Armen revoltieren, und die Antwort der Regierung: Hört auf, Euch zu vermehren, wir helfen Euch dabei (aber nur, wenn das die nationale Wirtschaft ankurbelt). Bösartig.

Man kann den Leuten viel nehmen, aber wenn es an  die Lebensgrundlagen UND die Würde geht, platzt ihnen irgendwann der Kragen.

Ich habe wirklich nicht verstanden, wieso die deutsche Presse diesen hohlköpfigen Parvenu Macron so hochgejubelt hat. Man möchte meinen, dass FrankreichkorrespondentInnen des Französischen mächtig sind. Aber wieso sollten Journalist*innen heutzutage intelligenter sein als die Regierung. «Bildung für Reiche!» hat Martin Obliers, Schriftsteller in Köln, mal gefordert. In der Tat, man hat den Eindruck von Vollpfosten regiert zu werden.

Und die Linke?

Ich möchte einen offenen Brief einer fanzösischen Aktivistin mit Euch teilen, da ich finde, dass er sehr schön das Dilemma darstellt, auch wenn sich mittlerweile was bewegt, seit auch die Schüler*innen und Student*innen im Streik sind. Am Samstag haben die Aktivist*innen der  Kampagne «Justice pour Adama» (antirassistische Kampagne gegen Polizeigewalt) zur Beteiliung an den Demos der Gilets Jaunes aufgerufen und gemeinsam demonstriert. Gestern hat die «Conferation Paysanne» mitgeteilt, dass sie sich ab sofort beteiligen wird. Die CGT ruft die LKW-Fahrer*innen zu Blockaden auf. Vielleicht gibt es jetzt endlich diese «Confluence des luttes», das Zusammenkommen der Kämpfe, auf das diesen Frühling alle gewartet haben und das nicht passierte, was zur Niederlage fast aller Kämpfe führte.

Lassen wir Alexia sprechen: (Original auf Facebook Alexia Olagnon)

An meine ein bisschen, sehr und leidenschaftlich revolutionären Freund*innen, die von einem großen Volksaufstand träumen, mit allen zusammen, den Arbeiter*innen, den Bäuer*innen, de Arbeitslosen, den Entrechteten, allen. Dem Volk halt. Ihr wartet schon eine ganze Weile auf dieses „Volk“, eine ganze Weile, in der man sich über dieses Volk aufregt, weil es sich nicht bewegen will, nicht kämpft, den Kopf senkt.

Aber welches Volk überhaupt? Wer?
Heute sind die Leute da. Bei mir auf dem Land halten sie die Blockaden seit 13 Tagen! Selbstverwaltet machen sie essen, verpflegen die „Truppen“, organisieren Aktionen und kommen wieder, wenn sie von den Bullen vertrieben wurden. Die anderen sind solidarisch, man hört und sieht es überall: zwei von drei Autos haben eine Warnweste hinter der Windschutzscheibe, als Zeichen der Solidarität. Sie sind zum Elyséepalast gegangen, zu Tausenden, und haben sich ordentlich einmachen lassen. Sie sprechen jetzt davon, die Häfen zu blockieren und weiterzukämpfen. Das ist doch der Hammer, oder? Es gibt sogar antirassistische Komitees unter ihnen, um eine rechte Übernahme der Bewegung zu verhindern.

Aber Du Genoss*in, Du scheinst mir verwirrt zu sein, ja enttäuscht sogar. Und das, wo ich doch bei den Blockaden viele verschiedene Leute sehen konnte: Arbeiter*innen, Arbeitslose, Rentner*innen, Gewerbetreibende, Selbstständige. Ich habe auch viele Frauen gesehen! (Bravo Mädels! Das klappt alles auch weil ihr da seid!) Aber Dich, Dich habe ich nicht gesehen.
Es ist, also ob dieses Volk, von dem Du immer so gerne „theoretisch“ redest nicht zu dem Bild passt, dass Du Dir von ihm gemacht hast. Du, der sich darin gefällt, am Rande zu sein, tust Dir schwer damit, Dir eine gelbe Weste anzuziehen. Du willst lieber in der Reserve bleiben als Dich ins Getümmel stürzen und Dir die Hände schmutzig zu machen.

Mit den Genoss*innen auf dem ersten Mai gegrillte Sardinen essen, das passt Dir, aber am Kreisverkehr um die Ecke Würstchen vom Grill essen, ist wohl zuviel verlangt. Das Volk scheint Dir Angst zu machen.

Ich versteh Dich. Unter uns sind wir unbehelligt, da können wir uns aneinander wärmen, während es da draußen kalt ist. Und komm, gib zu, Du bist auch ein bisschen sauer, weil sie nicht auf Dich gewartet haben. Und verwirrt bist du, weil Du lieber einen romantischeren Grund für den Aufstand gehabt hättest als ausgerechnet den Benzinpreis.
Und bist Du empört, weil Dir klar wird, dass das geliebte Volk teilweise düsteren Ideen anhängt?

Weißt Du, die Leute haben den Eindruck, dass Du auf sie herabschaust, und ich sag Dir was: da ist was dran. Die Leute auf den Barrikaden fragen sich schon, warum keine Künstler*innen, keine Gewerkschafter*innen, niemand sonst sie unterstützt. Nicht, um die Bewegung zu übernehmen, sondern um sie zu unterstützen!

Genoss*in, gegen Rechtsextremismus zu kämpfen, das ist nicht nur ab und zu Faschos klatschen. Du kannst auch so viele Wahlplakate von Marine Lepen abreißen wie Du willst, das ist nicht, was die Ideen dahinter zerstört (auch wenn es ein bisschen Befriedigung verschafft, das gesteht ich Dir zu). Wenn Du also heute nicht am Start bist, werden sich andere drum kümmern und ihren Hass säen.

Also komm, Genoss*in, ich hoff‘ ich hab Dich ein bisschen gepiekst, vielleicht sogar geärgert. Aber ich musste es Dir einfach sagen.

Ich für meinen Teil nehm‘ am Samstag mein Fahrrad und schau mich mal in meiner Gegend um. Ich hab zwar keine gelbe Warnweste, aber das kann sich ja noch ändern.

Und im Übrigen: wenn ihr was Intelligentes dazu lesen wollt, folgt Didier Eribon, Geoffroy de Lagasnerie und Eduard Louis in den Sozialen Medien (ist auf französisch).

Ab morgen erhältlich: »Strafe und Gefängnis. Theorie, Kritik, Alternativen.«

Heute soll es aus dem Druck kommen, mein neues Buch. Ihr könnt es also vorbestellen, sowohl beim Verlag als auch im Buchladen Eures Vertrauens! (Bitte meidet aus vielen politischen Gründen den Onlineversandhandel)

Über Elternschaft und Freundschaft

Nächstes Jahr werde ich 40. Während damit einerseits quasi numerisch bestätigt wird, dass es jetzt endgültig vorbei ist mit dem Schein der Jugendlichkeit und man auf dem Weg zur „5“ ist, verbindet sich bei mir damit eine Hoffnung: dass es endlich auch bald vorbei sein möge mit der Kinderkriegerei um mich herum.

Ich habe keine Kinder, nie welche gewollt und alles notwendige dafür getan, dass es nicht dazu kommt. Das hat eine ganze Reihe von Gründen, ich fand die Vorstellung, schwanger sein, immer schon abstoßend und unheimlich, und ich hatte einfach noch nie Lust, mein Leben an die Bedürfnisse eines abhängigen Wesens zu ketten. Aber, ich fand auch schon seit ich selber Kind war, dass es wirklich genug Menschen auf der Welt gibt und die Reproduktion der Menschheit keine vordringliche Aufgabe ist.

Und irgendwann fing es an, so mit Mitte dreißig, dass überall um mich herum Kinder geboren wurden.

Nach ihren Motiven gefragt, können sämtliche Eltern nur egoistische Gründe liefern. „Mal die Erfahrung machen, schwanger zu sein“. „Weil es interessant ist, einen Menschen aufwachsen zu sehen.“ „Weil Kinder lustig sind.“ Etc pp. Es geht immer um die Eltern, nie um das Wesen, das sie ins Leben rufen. Ich habe noch keine Eltern sagen hören: „Weil wir gerne einem Menschen das Leben schenken möchten, damit er an dieser schönen Welt teilhaben kann.“

Wie auch. Wir wissen alle, dass wir dabei sind, den Planeten zu ruinieren und die kommenden Generationen damit werden umgehen müssen. Dass die Zukunft derzeit eher nach Krieg, Umweltkatastrophe und Zusammenbruch aussieht als nach irgendwas anderem.  Kinder zu machen um eigene Bedürfnisse zu erfüllen: ich kann derzeit einfach kein „Like“ drunter setzen.

Wenn man so etwas sagt, macht man sich tendenziell unbeliebt. Kinderkriegen ist irgendwie heilig, sobald eine Schwangerschaft verkündet wird, wird erwartet, dass man freudestrahlend gratuliert. Das fällt mir schwer. Ich frage meist erstmal: warum willst Du das?

Aber es gibt noch etwas, das mich stört: Die Verkündung der Schwangerschaft ist gleichermaßen eine Aufkündigung der Freundschaft. Das meinen die Eltern nicht so, und es ist ihnen auch nicht bewusst. Aber wenn dir eine*r sagt, dass er Vater bzw. sie Mutter wird, weißt du, dass die nächsten 12 Jahre nichts mehr mit ihnen anzufangen ist.
Ihr BEKOMMT ein Kind, ich VERLIERE eine*n Freund*in.

Das heißt nicht, dass man sich weniger gern hat, aber ab jetzt ist es vorbei mit gemeinsamen Urlauben oder Kinobesuchen, wilden Partynächten, spontanen Unternehmungen oder auch nur einer störungsfreien Unterhaltung. Im Prinzip sieht man sich irgendwann einfach kaum mehr, weil die letzten drei Verabredungen wegen irgendwelcher Kinderprobleme in letzter Sekunde geplatzt sind, weil man als Kinderlose die Begleitung durch Kleinkinder nicht unbedingt als Bereicherung empfindet und weil man Gespräche, bei denen man keinen Satz zu Ende bringen kann, weil das Kleine immer dazwischenfunkt, einfach nicht sonderlich anregend findet. Wenn man sich überhaupt noch etwas zu sagen hat, schließlich drehen sich neuerdings auch die Unterhaltungen nur noch um die neusten Entwicklungsschritte des Kindes.

Ich glaube ehrlich gesagt noch nicht einmal, dass das so sein muss. Es ist vielmehr die derzeit gängige bürgerliche Art, Kinder zu erziehen. Ich bin überzeugt, dass ein Dreijähriger keinen lebenslangen Schaden davon trägt, wenn man ihm das Trompetespielen untersagt, solange man sich mit dem Gast unterhält (nur so als lebensnahes Beispiel). Oder dass man sich nicht vom Heul-anfall einer Sechsjährigen am Ausgehen hindern lassen muss (Kindersitter provided).

Das hört sich vielleicht alles hart an. Vielleicht vermittelt es aber einen kleinen Eindruck davon, wie frustrierend es ist, wenn man innerhalb weniger Jahre einen ganzen Haufen seiner Freund*innen ans Kinderkriegen verliert, und das noch nicht einmal laut sagen kann, weil einem sonst das Image einer antisozialen Kinderfeindin anhaftet.